Dr. Karl Renner

Biografie als PDF mit Quellen und Literatur:

Rechtswissenschaftler, Politiker (SDAP/SPÖ), Staatskanzler

* 14. Dezember 1870 in Untertannwitz, Mähren (heute Dolní Dunajovice, Tschechien)

† 31. Dezember 1950 in Wien

Straßenbenennung: Dr.-Karl-Renner-Straße, beschlossen am 2. August 1974

Lage: Schallmoos; Sackgasse von der Sterneckstraße in Richtung Schallmooser Hauptstraße.

 

Karl Renner war einer der bedeutendsten österreichischen Staatsmänner des 20. Jahrhunderts. Auch international wird Renner als führender sozialdemokratischer Politiker (Sozialdemokratische Arbeiterpartei [SDAP]; Sozialistische Partei Österreichs [SPÖ]) und sozialistischer Theoretiker eingestuft. Der promovierte Rechts- und Staatswissenschaftler Renner war seit 1895 Parlamentsbibliothekar und wurde 1907 in den österreichischen Reichsrat gewählt. In Publikationen sprach er sich unter dem Pseudonym Rudolf Springer für einen Umbau der Monarchie in einen demokratischen Nationalitätenbundesstaat aus. Renner gehörte dem rechten Flügel der Sozialdemokratie an und war maßgeblich am Entstehen der Ersten und der Zweiten Republik beteiligt. Er leitete die deutschösterreichische Delegation beim Friedenskongress von St.-Germain-en-Laye und amtierte von 1918 bis 1920 als Staatskanzler. Am 27. April 1945 wurde Renner neuerlich Staatskanzler einer provisorischen Staatsregierung, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Befreiung von der NS-Diktatur die Republik Österreich wiederbegründete. Die alliierten Besatzungsmächte anerkannten die Regierung Renner im Herbst 1945 als legitime Repräsentantin Österreichs. Dies gilt als hervorragende politische Leistung des Staatsmannes Renner, weil die Gefahr einer Teilung des Landes damit gebannt zu sein schien. Am 20. Dezember 1945 wurde Karl Renner von der Bundesversammlung einstimmig zum ersten Bundespräsidenten der Zweiten Republik gewählt. Er verstarb am 31. Dezember 1950 und wurde am 5. Jänner 1951 in der Bundespräsidentengruft auf dem Wiener Zentralfriedhof (Grab Nr. 1) bestattet.

Die nachstehenden Ausführungen beanspruchen weder, eine Gesamtdarstellung der Biografie und politischen Laufbahn Renners zu vermitteln, noch kann dessen politisch-ideologischer Ansatz des „induktiven Marxismus“ näher erläutert werden. Ebenso wenig sollen seine – eingangs angedeuteten – unbestrittenen Leistungen für die Republik Österreich, die Sozialdemokratie, das Genossenschaftswesen und als vielseitiger Publizist geschmälert werden. Der Text beschränkt sich vielmehr darauf, einige der aus heutiger Sicht problematischen und umstrittenen Aspekte in der Biografie Karl Renners mit Hilfe der verfügbaren Forschungsliteratur genauer zu beleuchten.

Folgende Problemkreise geraten hierbei in den Blickpunkt:

a) die Rolle Renners bei der parlamentarischen Geschäftsordnungskrise vom 4. März 1933, die der christlichsoziale Bundeskanzler Dr. Engelbert Dollfuß dazu instrumentalisierte, um das Parlament auszuschalten und eine „ständestaatliche“ Diktatur zu errichten;

b) Renners am 3. April 1938 veröffentlichte Medienerklärung für ein „Ja“ bei der inszenierten „Volksabstimmung über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich“ sowie seine zustimmende Haltung zum „Münchner Abkommen“ vom 29. September 1938;

c) Renners als antisemitisch gedeutete Äußerungen und sein Umgang mit Holocaustüberlebenden und jüdischen Remigranten nach 1945.

 

An dieser Stelle sei nur knapp angedeutet, welche besondere erinnerungskulturelle und -politische Relevanz der öffentlichen wie auch historiografischen Auseinandersetzung mit Karl Renner bis heute zukommt. So wurde im Zusammenhang mit der 2012 vorgenommenen Umbenennung des Dr.-Karl-Lueger-Rings in Wien in „Universitätsring“ und der Debatte um Renners Befürwortung des „Anschlusses“ im Jahr 1938 die Frage kontroversiell diskutiert, ob nicht auch der an den Lueger-Ring südlich anschließende Dr.-Karl-Renner-Ring allfällig umzubenennen sei.

 

Renner und die parlamentarische Geschäftsordnungskrise vom 4. März 1933

Am 4. März 1933 kam es zu einer Geschäftsordnungskrise des österreichischen Parlaments. Gegenstand der parlamentarischen Debatte dieses Tages war ein Plan der Regierung, mit Sanktionen gegen streikende Eisenbahner vorzugehen. Als Erster Präsident des Nationalrates spielte Renner dabei eine umstrittene Rolle. Er ließ sich nämlich von seinen beiden Parteikollegen Otto Bauer und Karl Seitz dazu überreden, aus abstimmungstechnischen Gründen sein Amt niederzulegen. Daraufhin traten auch die beiden anderen Präsidenten Dr. Rudolf Ramek (Christlichsoziale Partei) und Dr. Sepp Straffner (Großdeutsche Volkspartei) zurück, was die Sozialdemokraten jedoch nicht vorhergesehen hatten. Daraus resultierte eine Situation, die in der Geschäftsordnung nicht vorgesehen war. Zwar versuchte der Dritte Präsident Straffner am 15. März 1933, das Parlament wieder einzuberufen. Dollfuß unterband jedoch dessen Konstituierung, indem er das Parlament durch die Exekutive abriegeln ließ. Die Abgeordneten konnten somit nicht zusammentreten.

Dollfuß reaktivierte bereits am 7. März 1933 das aus dem Ersten Weltkrieg stammende „Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz“, um künftig auf der Basis von Notverordnungen autoritär zu regieren. Er ging damit schrittweise den Weg in die Diktatur, ohne dass sich der von den Christlichsozialen aufgestellte Bundespräsident Dr. Wilhelm Miklas den verfassungswidrigen Aktionen der Regierung entgegenstellte. Dollfuß hatte damit einen „kalten Staatsstreich“ vollzogen, den er „mit der als ‚Selbstausschaltung‘ bemäntelten Mattsetzung des Nationalrats und dieser rechtswidrigen Aneignung legislativer Befugnisse“ vollzog. Angesichts des putschartigen Vorgehens der Regierung verfolgte Karl Renner eine defensive Politik. Gemeinsam mit Otto Bauer, der mit seinem Ratschlag an Renner, als Erster Präsident des Nationalrates zurückzutreten, für die Geschäftsordnungskrise des 4. März 1933 mitverantwortlich war, versuchte dieser, der Regierung Dollfuß entgegenzukommen. Nach dem sozialdemokratischen Parteitag vom Oktober 1933 arbeitete Renner ein Verfassungsgesetz aus, das der Regierung weitgehende Vollmachten gegeben hätte.

Dieses „Staatsnotstandsgesetz“ sah zwar vor, neben dem Nationalrat einen „Ständerat“ einzurichten, die Grundlagen der Gewaltenteilung sollten aber nicht verschoben werden. Renner bot damit der Regierung die Erteilung einer Generalvollmacht an, mit der sie ihren Notverordnungskurs fortsetzen hätte können. Sein Vorschlag einer Duldung des autoritären Regimes, der auch ein Bündnis gegen den Nationalsozialismus beinhaltete, wurde von Dollfuß allerdings abgelehnt. Im Rückblick bekannte sich Otto Bauer dazu, dass er und seine Partei mit ihrer taktisch begründeten Vorgehensweise am Tag der – von Dollfuß propagandistisch so bezeichneten – „Selbstausschaltung“ des Parlaments einen Fehler gemacht hatten. Die Sozialdemokraten hätten zudem am 15. März 1933, als die Regierung die Parlamentarier gewaltsam daran hinderte, zusammenzutreten, den Generalstreik ausrufen müssen. Ein „Gelingen des Generalstreiks“ war jedoch nach dem Zeithistoriker Ernst Hanisch 1933 „so unwahrscheinlich wie 1927 und 1934“. Zwar hätte der Republikanische Schutzbund den Kampf 1933 „gewiss besser organisiert führen können“. Letztlich hätte ein Arbeiteraufstand gegen eine entschlossene Regierung und die von ihr kontrollierten Bundesheer- und Heimwehreinheiten schon damals „kaum eine Chance“ gehabt.

Als Österreich am 12. Februar 1934 in den Bürgerkrieg stürzte, wurde Renner von Heimwehrleuten in Gloggnitz, wo er sein Haus hatte, verhaftet. Wegen des Verdachts auf „Hochverrat“ im Wiener Polizeigefängnis auf der Rossauer Lände inhaftiert, bekannte sich Renner in Verhören dazu, dass der gesamte sozialdemokratische Parteivorstand – Otto Bauer mit eingeschlossen – auf dem Boden der Demokratie gestanden sei. Der einstige Staatskanzler wurde am 20. Mai 1934 aus seiner Haft entlassen, ohne dass er entschädigt wurde und ohne dass er in der Ära des Dollfuß/Schuschnigg-Regimes politisch wieder in Erscheinung trat.

 

Renners „Ja“ zum „Anschluß“ und zum „Münchner Abkommen“

Am 13. März 1938 wurde der „Anschluß“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich vollzogen. Wenige Wochen später erschien im „Neuen Wiener Tagblatt“ vom 3. April 1938 ein Interview, das Karl Renner dieser Zeitung gegeben hatte. In dem Beitrag mit dem Titel „Ich stimme mit Ja“ erklärte der ehemalige Staatskanzler:

„Ich habe als erster Kanzler Deutschösterreichs am 12. November 1918 in der Nationalversammlung den Antrag gestellt und zur nahezu einstimmigen Annahme gebracht. ‚Deutschösterreich ist ein Bestandteil der Deutschen Republik.‘ Ich habe als Präsident der Friedensverhandlungen zu St. Germain durch viele Monate um den Anschluß gerungen — die Not im Lande und die feindliche Besetzung der Grenzen haben die Nationalversammlung und so auch mich genötigt, der Demütigung des Friedensvertrages und dem bedingten Anschlußverbot uns zu unterwerfen. Trotzdem habe ich seit 1919 in zahllosen Schriften und ungezählten Versammlungen im Lande und im Reiche den Kampf um den Anschluß weitergeführt. Obschon nicht mit jenen Methoden, zu denen ich mich bekenne, errungen, ist der Anschluß nunmehr doch vollzogen, ist geschichtliche Tatsache, und diese betrachte ich als wahrhafte Genugtuung für die Demütigungen von 1918 und 1919, für St.-Germain und Versailles. Ich müßte meine ganze Vergangenheit als theoretischer Vorkämpfer des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen wie als deutschösterreichischer Staatsmann verleugnen, wenn ich die große geschichtliche Tat des Wiederzusammenschlusses der deutschen Nation nicht freudigen Herzens begrüßte.“

 

Renners Angebot an die neuen nationalsozialistischen Machthaber, sich als Propagandist für den „Anschluß“ zur Verfügung zu stellen, ging ursprünglich sogar über das oben genannte Interview hinaus; er hatte nämlich dem Wiener NS-Bürgermeister Hermann Neubacher angeboten, mit einer Plakataktion für das „Anschluß“-Plebiszit vom 10. April 1938 zu werben, mit dem die Einverleibung Österreichs durch das „Dritte Reich“ nachträglich legitimiert werden sollte. Da die Parteikanzlei der NSDAP in München dieses Ansinnen jedoch ablehnte, blieb es bei der Wiedergabe des „einfachen“ Interviews. Renner selbst bekannte sich stets dazu, dass er seine Pro-„Anschluß“-Erklärung aus freien Stücken abgegeben habe. Damit stellte er sich im Übrigen gegen einen Beschluss des außerordentlichen Parteitags seiner Partei von 1933, in dem der „Anschluß“ an das von den Nationalsozialisten beherrschte Deutschland abgelehnt wurde. Im Mai 1938 veröffentlichte er ferner im Londoner Magazin „World Review“ einen Artikel, der unter der Schlagzeile „Why I voted ‚Ja‘“ erschien. Renner trat darin zwar weiterhin für den „Anschluß“ ein, er äußerte sich hierzu aber auch folgendermaßen: „Es schmerzt mich als Demokrat einer Diktatur, als freier Sozialist eines militarisierten Staatssozialismus, als Kind eines humanen Jahrhunderts, einem unfaßbaren Rassenregime mich unterwerfen zu müssen. Ich muß es tragen im Troste der Erkenntnis: Staaten bleiben, aber Systeme wechseln.“

Wenn man beide Texte miteinander in Beziehung setzt, ist dem Politikwissenschaftler Richard Saage zufolge festzuhalten, dass Renner im „Anschluß“ zwar eine „geschichtliche Tatsache“ sah, die das vermeintliche Unrecht der Pariser Friedensverträge von 1919 revidieren würde. Er distanzierte sich aber von den Methoden, mit denen der „Anschluß“ im März 1938 durchgesetzt worden war. Sein „Ja“ suchte er auch damit zu rechtfertigen, dass die Westmächte das Scheitern der Donauraumpolitik zu verantworten hätten. Er argumentiere damit aus einer wirtschaftspolitischen Sicht, die dem Interesse des österreichischen Volkes entspreche. In seinem späteren Artikel in der „World Review“ erläuterte Renner ferner, dass er ausdrücklich als Sozialdemokrat spreche. Damit wollte er den Verdacht ausräumen, dass er sich zum Nationalsozialisten gewandelt habe. Nicht zuletzt ist hervorzuheben, dass Renner sich in dem Artikel gegen den Rassismus der Hitlerdiktatur stellte. Indem er allgemein bemerkte, dass Staaten blieben, „Systeme“ aber wechseln würden, drückte er zudem indirekt seine Hoffnung aus, dass das NS-Regime nicht dauerhaft sei.

Zur Frage der handlungsleitenden Motive, warum sich Renner im April 1938 aktiv an die – im nationalsozialistischen Sinn gleichgeschaltete – Öffentlichkeit wandte, um seine Zustimmung zum „Anschluß“ kundzutun, werden in der Forschungsliteratur im Wesentlichen fünf Interpretationsansätze diskutiert. Richard Saage fasst diese Ansätze folgendermaßen zusammen:

a) Renner habe durch sein Interview inhaftierte sozialdemokratische Gesinnungsfreunde wie etwa Robert Danneberg retten wollen. Diese Variante dürfte auf seinen Parteikollegen Oskar Helmer zurückgehen. Saage hält diesen Erklärungsansatz allerdings für „wenig glaubwürdig“, womit er mit dem Renner-Biographen Siegfried Nasko übereinstimmt. Auch Renner selbst habe diesen Ansatz nie ins Treffen geführt;

b) Renner sei aus persönlicher Überzeugung für den „Anschluß“ an Deutschland eingetreten. Diese These erscheint aber ebenso wenig wahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass Renner selbst in seinen beiden gedruckten Stellungnahmen jeweils die gescheiterte Donaukonföderation erwähnte. Diese habe er seit 1933 wiederholt als eine Variante des mitteleuropäischen Zusammenschlusses politisch befürwortet, mit der ausdrücklich die Eigenstaatlichkeit Österreichs erhalten und ein Anschluss an NS-Deutschland vermieden werden sollte. Das von Renner selbst im April 1938 kolportierte Narrativ, dass er seit 1918 kontinuierlich seine Anschlussbegeisterung kundgetan habe, erscheint damit kaum plausibel zu sein;

c) Renner könnte mit dem Interview versucht haben, sich selbst und seine Familienangehörigen vor Verfolgungen durch die Nationalsozialisten zu schützen. Hierbei ging es ihm nicht zuletzt um Hans Deutsch, seinen von ihm geschätzten Schwiegersohn jüdischer Herkunft. Deutsch wurde in Wiener Neustadt von NS-Schergen misshandelt und ins Exil getrieben. Ein namhafter Vertreter dieser These war der Sozialphilosoph Norbert Leser. Dieser nahm an, dass Renner mit seiner Anschlusserklärung „auf diese Art auch ein persönliches Arrangement mit den damaligen Machthabern“ treffen wollte, das „ihm und den Seinen das Überleben bzw. die ungestörte Auswanderung“ ermöglichen könnte;

d) Ein weiterer Erklärungsversuch bezieht sich auf die „Attentismusthese“, die auch Renner selbst als Motiv für sein Handeln ins Spiel brachte. Demnach habe er „die im Untergrund kämpfenden Genossen von einem bewaffneten Kampf gegen das Dritte Reich abhalten“ wollen, „den sie nur verlieren könnten“. Angesichts des Umstands, dass keine konkreten Aktionen oder Pläne für derartige Aktionen bekannt sind, von denen Renner seine Parteikollegen abbringen hätte können, hält Saage – auch hier in Übereinstimmung mit Nasko – diesen Rechtfertigungsversuch für eine Vermutung, für die ein stichhaltiger Beweis nicht erbracht werden könne.

e) Saage verweist schließlich auf die vorherrschende Stimmungslage innerhalb der österreichischen Arbeiterschaft im März 1938, auf die sich Renner selbst in seiner nachgelassenen Schrift „Österreich von der Ersten zur Zweiten Republik“ bezog. Aus der Sicht vieler Arbeiter stellte nicht der Nationalsozialismus, sondern der Austrofaschismus den politischen Hauptgegner der Sozialdemokratie dar. Renner könnte aus dem Bewusstsein heraus, dass das „Dritte Reich“ vielen seiner Parteigenossen als das „geringere Übel“ galt, diese Sichtweise in seiner Stellungnahme gleichsam reflektiert haben.

 

Welche Motive Renners verhängnisvollem Schritt am ehesten zugrunde lagen, ist nach Ansicht von Saage nicht endgültig zu entscheiden. Siegfried Nasko plädiert hingegen dafür, die Erklärung von 1938 „in Renners prinzipielle Einstellung“ einzubetten, „man habe sich den Repräsentanten eines Staates anzunähern, auch wenn es sich um Diktatoren oder Tyrannen handelt“. Unbestritten ist, dass Renners öffentliche Äußerung vom März 1938 seinem persönlichen Ansehen nachhaltig geschadet hat. Dies wird umso mehr deutlich, wenn man bedenkt, dass die Kunde von Renners „Ja“-Interview bis zu den Inhaftierten im Konzentrationslager Dachau drang und von diesen als tragisch und demoralisierend empfunden wurde. Renner stand mit seinem Interview, das vielfach als Kniefall vor den Nationalsozialisten empfunden wurde, jedoch nicht alleine. So veröffentlichte der Erzbischof von Wien Kardinal Theodor Innitzer am 18. März 1938 gemeinsam mit seinen Amtsbrüdern eine „feierliche Erklärung“, in der er ebenso den „Anschluß“ Österreichs befürwortete. Renner unterzeichnete allerdings seine Stellungnahme nicht wie Innitzer mit „Heil Hitler“, der diese Formel in seinem Begleitschreiben zur bischöflichen Erklärung verwendet hatte.

Während seine beiden Stellungnahmen zum „Anschluß“ Österreichs im „Neuen Wiener Tagblatt“ bzw. in der Zeitschrift „World Review“ publiziert wurden, blieb eine Schrift, in welcher sich Renner positiv zum „Münchner Abkommen“ positionierte, zu seinen Lebzeiten unveröffentlicht. 1938/39 verfasste er das Manuskript „Die Gründung der Republik Deutschösterreich, der Anschluß und die Sudetendeutschen – Dokumente eines Kampfes ums Recht“. Darin stellte der gebürtige Südmährer Renner die Handlungsweise Hitlers im Zusammenhang mit der Angliederung des Sudetenlandes an das „Dritte Reich“ äußerst positiv dar. Das „Münchner Abkommen“, das im Nachhinein als Auftakt zur Expansionspolitik Hitlers erschien, beurteilte Renner ähnlich wie den „Anschluß“ Österreichs im Lichte der Revision der Pariser Friedensverträge von 1919. Zwar bedauerte er, dass „das tschechische Volk“ infolge des „Münchner Abkommens“ „tief herabgestürzt worden“ sei, „tiefer als es seinem geschichtlichen Rang entspricht“. Erstaunlich erscheint aber nach Richard Saage die „bemerkenswerte Gleichgültigkeit“ Renners gegenüber der Tatsache, dass nunmehr auch die Sudetendeutschen der Willkür des NS-Terror-Regimes unterworfen wurden.

Der Text von Renners Broschüre wurde erst 1990 von Eduard Rabofsky ediert und kommentiert. Anton Pelinka bemerkte hierzu, dass „dieser zweite Anpassungsschritt Renners (…) in keiner der sozialdemokratischen Renner-Hagiographien“ aufgetaucht und somit von der Sozialdemokratie „nach 1945 de facto unterschlagen“ worden sei.

 

Zur umstrittenen Frage von Renners Antisemitismus vor/nach 1945

In der vierten Sitzung des Nationalrates vom 23. November 1920 sagte Renner Folgendes: „Bourgoisie-Bauern, die sagen: Wir haben unsere Zehntausender drinnen liegen in den Laden, was brauchen wir Genossenschaften? Wir brauchen nichts anderes, als dass diese ausgehungerten Kapitalisten aus Wien, die Hoteliers, die jüdischen Schleichhändler zu uns kommen und uns Getreide abkaufen für teures Geld, zu Überpreisen, mehr brauchen wir nicht. Wir pfeifen auf die Genossenschaften“ Und das war der Sündenfall der christlichsozialen Bauern (…).“

Diese und andere Reden und Aussagen Renners, in denen er sich kritisch mit dem Schleichhandel und den Auswüchsen des Kapitalismus beschäftigte, nahm der Historiker und frühere Landeshauptmann von Salzburg Franz Schausberger (ÖVP) im Jahr 2012 zum Anlass, um auf angebliche antisemitische Äußerungen Karl Renners aufmerksam zu machen. Schausberger argumentierte, dass dieser in seinen Parlamentsreden „den Begriffen ‚jüdisch‘ oder ‚Juden‘ einen negativen Drall“ gegeben habe. Dem sozialdemokratischen Politiker soll es dabei nicht darum gegangen sein, „das Großkapital, den Manchesterliberalismus generell und die Banken zu kritisieren“. Vielmehr habe er sich stets gegen das „jüdische Großkapital“, die „jüdischen Banken“, den „jüdischen Manchesterliberalismus“ gewandt. Auch sei es Renner etwa in Parlamentsreden des Jahres 1920 nicht um Schleichhändler in Wien generell gegangen, sondern „es waren immer die ‚jüdischen Schleichhändler‘, die er anklagte, obwohl eine große Zahl nichtjüdisch war“.

Schausbergers Kritik an Renner gipfelte in seiner politischen Forderung, den Dr.-Karl-Renner-Ring in „Parlaments-Ring“ umzubenennen. Hiergegen erhob sich aber ebenso Widerstand wie gegen die methodische Vorgehensweise, die Schausberger als Historiker gewählt hatte. So kritisierte der Zeithistoriker Oliver Rathkolb seinen Kollegen dafür, dass dieser „die bewusste Ironie der Polemik Renners“, die sich gegen seine politischen Gegenspieler in der Christlichsozialen Partei gerichtet habe, in seinen Zitaten nicht angemessen berücksichtigt habe. Bereits in verschiedenen zeitgenössischen Tageszeitungen wie der „Reichspost“, der „Arbeiter-Zeitung“ und der „Neuen Freien Presse“ sei etwa Renners Parlamentsrede vom 23. November 1920 zwar ausführlich thematisiert worden. In diesen Zeitungen sei Renner aber nie als Antisemit dargestellt worden. Allerdings habe Renner – ähnlich wie andere sozialdemokratische Politiker – immer wieder das Vorurteil vom „jüdischen Großkapital“ bedient. Er habe seine Polemiken übertrieben und antisemitische Stereotype verwendet, die er in Beziehung zur antisemitischen Politik des christlichsozialen Politikers Leopold Kunschak gesetzt habe. Rathkolb bemerkte zusammenfassend: „Renner war ein Mensch mit einer unglaublich chamäleonartigen Wendigkeit in alle Richtungen. Diese Debatte gehört geführt. Aber es sollten die Dimensionen gewahrt werden. Es gibt einen Unterschied zwischen antisemitischen Zurufen in einer Debatte durch Renner, die teilweise, aber nicht immer, provozierend gegen Leopold Kunschak gemeint waren, und Luegers Strategie. Das Gesamtprofil des Antisemitismus eines Luegers mit Renner gleichzusetzen ist schlicht und einfach falsch.“

Im Gegensatz zum programmatischen Antisemitismus, wie ihn der frühere christlichsoziale Wiener Bürgermeister Karl Lueger vertrat, habe der Antisemitismus somit laut Rathkolb für Renner keine öffentliche politische Kategorie dargestellt. Rathkolb war sich hierin auch mit dem britischen Historiker Robert Knight einig. Dieser stellte nämlich fest, dass er „Renner nicht glatt als Antisemiten bezeichnen“ würde, „weil es gar nicht der Kern seiner Weltanschauung war. Er war nicht ein ideologischer Antisemit im Unterschied zu Kunschak oder Lueger.“

Wenn man die 1946 publizierten Lebenserinnerungen Renners genauer untersucht, wird deutlich, dass er sich selbst als eindeutiger Gegner des Antisemitismus vor dem Ersten Weltkrieg sah. So wies er etwa darauf hin, dass „wucherische Geschäfte mit kleinen Weinbauern“ „keineswegs nur Nikolsburger Juden“ machten, „sondern ebenso reiche Weinbauern und christliche Geschäftsleute des Ortes mit jedermann (…); so war ich nie versucht, den Zinswucher als eine bloß von Juden benützte Erwerbsquelle anzusehen.“ Und an anderer Stelle seiner Autobiografie äußerte Renner seine „tiefe Sympathie“, die er für einen jüdischen Hausierer aus Nikolsburg empfunden habe. Trotz der Verschiedenheit des Glaubens sei es „die gleiche Not des Lebens, die gleiche Armut, die gleiche Frömmigkeit“ gewesen, die er mit diesem Mann geteilt habe.

Umso schwerer ist es zunächst nachzuvollziehen, dass Renner nach 1945 kaum Interesse an den jüdischen Opfern des Nationalsozialismus zeigte. Die österreichische Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945, an der Renner maßgeblich mitgearbeitet hatte, erwähnte das Schicksal der jüdischen Österreicher in der NS-Diktatur nicht. Als Bundespräsident bezog Renner im Februar 1946 in einer Ansprache, die er vor dem Palästina-Komitee zur Zukunft von Österreichs Juden hielt, mit folgenden Worten Stellung: „(…) Und selbst wenn es Platz gäbe, (…) glaube ich nicht, daß Österreich in seiner jetzigen Stimmung Juden noch einmal erlauben würde, diese Familienmonopole aufzubauen. Sicherlich würden wir es nicht zulassen, daß eine neue jüdische Gemeinde aus Osteuropa hierher käme und sich hier etablierte, während unsere eigenen Leute Arbeit brauchen.“ Renner ließ ferner keinen Zweifel daran, dass ihm die Entschädigung der Opfer des Bürgerkriegs vom Februar 1934 viel wichtiger war, als „daß man jeden kleinen jüdischen Kaufmann oder Hausierer [für] seinen Verlust entschädigt“. Diese restriktive Haltung Renners hinsichtlich einer Rückkehr bzw. Entschädigung der vertriebenen Juden wird heute als „in hohem Maße unsensibel, wenn nicht sogar unverständlich“ bewertet. Der Publizist Maximilian Gottschlich bemerkte hierzu: „Um sich selbst als Opfer definieren zu können, musste man die Holocaust-Opfer aus der öffentlichen Wahrnehmung ausblenden.“

Die „Indifferenz Renners gegenüber dem Holocaust“ war somit einerseits mit der Opferthese Österreichs als Staatsdoktrin verknüpft, die wesentlich aus der Moskauer Deklaration von 1943 abgeleitet wurde. Die Schuld an Krieg und Nationalsozialismus sollte so der – 1949 gegründeten – Bundesrepublik Deutschland als dem vorgeblich alleinigen Rechtsnachfolger des Deutschen Reiches aufgebürdet werden. Andererseits stand nach 1945 auch in Österreich die Frage im Raum, inwieweit im „Dritten Reich“ „arisiertes“ Eigentum restituiert werden sollte. Die weitgehend fehlende Thematisierung jüdischen Leids durch den Staatskanzler und Bundespräsidenten Karl Renner entsprach somit gleichsam spiegelbildlich der äußerst zögerlichen Vorgehensweise der Republik Österreich in dieser Frage, die nur unter US-amerikanischem Druck bis 1949 Rückstellungs-, Fürsorge- und Entschädigungsgesetze verabschiedete.

 

Straßenbenennung

Landeshauptmann-Stellvertreter Karl Steinocher (SPÖ) informierte im März 1970 Bürgermeister Kommerzialrat Alfred Bäck (SPÖ), dass das Land Salzburg anlässlich des 25-jährigen Jubiläums der Zweiten Republik am 2. und 3. Mai ein „Landesfest“ ausrichten werde. „Unsere Partei wird darauf drängen, daß im Mittelpunkt der Ehrungen auch der Name des zweimaligen Gründungsstaatskanzlers Dr. Karl Renner stehen wird. Ich bitte Dich daher zu überlegen, ob nicht auch die Stadt Salzburg diese Feier zum Anlaß nehmen könnte, um Dr. Karl Renner besonders zu ehren.“ Bäck beauftragte die Magistratsdirektion, die ihrerseits wiederum die Kulturabteilung aufforderte, Vorschläge zu unterbreiten. In seinem ausführlichen Bericht an den Bürgermeister befürwortete Amtsrat Walter Strasser vom Kulturamt die öffentliche Ehrung Renners und wies darauf hin, dass 1970 nicht nur das Republiksjubiläum gefeiert werde, sondern sich auch der 100. Geburtstag und der 20. Todestag von Karl Renner jähre. „Als posthume Ehrung seitens der Stadt Salzburg läßt sich nur die Benennung einer Verkehrsfläche (Straße, Platz, Brücke oder Parkanlage) oder eines Schulgebäudes realisieren.“ Derzeit seien jedoch keine Flächen zu benennen, die „als genügend repräsentativ in Frage“ kämen. „Auch Brücken und Plätze stehen gegenwärtig für eine Neubenennung nicht zur Verfügung.“ Vom Amt kam daher der Vorschlag, „der schön gestalteten Parkanlage in Lehen nördlich der Berufsschule zwischen Schießstadtstraße (sic; recte: Schießstattstraße) und Makartkai den Namen DR.-KARL-RENNER-PARK zu geben. Eine entsprechend gestaltete Marmortafel mit Konglomeratsockel, etwa in der Art, wie sie im Donnenbergpark oder an der Rainerstraße vorzufinden ist, könnte an geeigneter Stelle im Parkgelände auf die Widmung der Stadt hinweisen.“ Das Schulamt bot alternativ eine mögliche Benennung der neuen Hauptschulen Herrnau, Liefering oder Gnigl an. Einwendend gab Strasser zu bedenken, dass „die Durchführung abgesehen vom Beschluß des Gemeinderates einer sorgfältigen Vorbereitung“ bedürfe, „um der Ehrung zum Andenken an Dr. Renner die gebührende Bedeutung zu verleihen. Eine unmittelbare Koordinierung mit dem Landesfest am 2. und 3. Mai erscheint daher weder zweckmäßig noch sinnvoll realisierbar. (…) Eine Parkanlagen-Benennung wäre noch vor dem Sommer möglich, die Benennung einer Hauptschule jedoch erst mit Beginn des neuen Schuljahres im Herbst.“ Mitte Mai 1970 wurde die Angelegenheit erneut im Stadtratskollegium besprochen, weitere Schritte bis in den Herbst unterblieben jedoch. Als Ende August der Österreichische Städtebund ein Rundschreiben an alle Mitgliedsgemeinden aussandte, in dem anlässlich des 100. Geburtstages von Renner angefragt wurde, „ob in Ihrer Gemeinde ein Objekt oder eine Anlage nach Dr. Karl Renner benannt worden ist“, antwortete Magistratsdirektor Dr. Bruno Schmid zwei Wochen später, „daß beabsichtigt ist, (…) daß eine Straße oder ein Platz nach dem verstorbenen Bundespräsidenten benannt wird“. Das Kulturamt war von diesem Vorstoß überrascht, informierte die Mitglieder des Straßenbenennungsunterausschusses und bat um Rückmeldung, ob sie der bereits im Frühjahr vorgebrachten Neubenennung des Lehener Parks zustimmen würden. Da die Zeit drängte, legte das Kulturamt am 3. Dezember 1970 einen entsprechenden Amtsbericht vor, wobei für die avisierte Lösung „erst die Zustimmung der SPÖ- und der FPÖ-Fraktion“ vorlag. Schlussendlich kam es im Jubiläumsjahr 1970 zu keinem Beschluss, die Angelegenheit wurde zurückgestellt, der Name Karl Renner kam erst vier Jahre später wieder aufs Tapet.

Am 14. März und 29. Mai 1974 fanden Besprechungen des Unterausschusses für Straßenbenennungen statt. Als Resultat dieser Treffen legte das Kulturamt am 30. Mai 1974 einen Amtsbericht vor, der elf Neubenennungen beinhaltete, darunter als „Vorgang 2“ ein „Straßenstück, das von der Schallmooser Hauptstraße in nördlicher Richtung gegen die Sterneck-Straße verläuft“. Die Benennung dieser Verkehrsfläche in „Kapuzinerberg-Straße“ hatte der Gemeinderat rund ein Jahr zuvor abgelehnt. „In der Zwischenzeit sind die Planungen so weit gediehen, daß dieses Straßenstück als Beginn einer künftigen Hauptverbindungsstraße angesehen werden kann, die in Fortsetzung des geplanten Kapuzinerberg-Tunnels bis zur Autobahnabfahrt Salzburg-Nord führen wird. Die vorgesehene Breite beträgt 15 m, beiderseits sind Gehsteige vorgesehen.“ Da bereits mehrere größere Objekte fertiggestellt waren, drängte eine Benennung der Straße. „Da es sich hier um einen repräsentativen Straßenzug handelt, ist der Unterausschuß einhellig der Meinung, daß die Benennung ‚DR.-KARL-RENNER-STRASSE‘ angebracht wäre.“ Wer den Namen Renner für eine Straßenbenennung erneut ins Spiel gebracht hatte, geht aus den vorliegenden Unterlagen nicht hervor. Alle befassten politischen Gremien stimmten dem Vorschlag einstimmig zu, der Kulturausschuss in seiner Sitzung vom 4. Juli, der Stadtsenat vom 8. Juli und der Gemeinderat vom 2. August 1974 (13 SPÖ, 9 ÖVP, 3 FPÖ). Die seit dem späten 19. Jahrhundert wiederholt diskutierten Pläne für einen Durchstich des Kapuzinerbergs als Verbindungsstraße Richtung Salzach wurden auch Mitte der 1970er Jahre nicht realisiert. Die mit dem Projekt verbundene Unterflurtrasse durch den Volksgarten wurde durch die Bürgerinitiative „Rettet den Volksgarten“ 1976 gestoppt. Entgegen den seinerzeitigen Intentionen ist die „Dr.-Karl-Renner-Straße“ eine rund 200 Meter lange Sackgasse im Gewerbegebiet von Schallmoos, in dem sich mit dem Landesrettungskommando des Roten Kreuzes Salzburg, der Rot-Kreuz-Einsatzstelle der Stadt Salzburg und dem Hausarzt Notdienst Zentrum wichtige medizinische Einrichtungen befinden.