Flucht ins Ausland
Spätestens nach den Novemberpogromen erhöhte sich der Druck für Juden und Jüdinnen, Österreich schnellstmöglich zu verlassen, enorm. Doch wohin flüchten? Die Flucht in ein nahegelegenes Land wie die Tschechoslowakei, Frankreich, die Niederlande oder Belgien barg die Gefahr, von den Nationalsozialisten eingeholt zu werden – was tatsächlich geschah. Viele Geflüchtete, darunter auch Marko Feingold, wurden im Fluchtland aufgegriffen und deportiert. Die Flucht in ein weiter entferntes, dadurch aber häufig sichereres Land, war mit großen Herausforderungen verbunden: so hielten die USA an ihrem Quotensystem fest und verlangten ein Affidavit, eine Bürgschaft von US-StaatsbürgerInnen, als Voraussetzung für die Ausstellung eines Visums. Ähnlich ging auch Großbritannien vor. Die Einreise ins britische Mandatsgebiet Palästina war ebenfalls durch ein strenges Quotensystem, das „Weißbuch“, geregelt. Viele versuchten es illegal. Shanghai verlangte zwar kein Visum, doch musste man eine Schiffskarte ergattern und endete in einer gänzlich fremden Welt mit sehr schwierigen Lebensbedingungen.
Neubeginn in der Fremde
Die bürokratischen Hürden konnten Familien zerreißen. So war es einigen Kindern möglich – darunter auch zwei Söhnen der Salzburger Familie Ornstein-Neuwirth –, mit Hilfe eines Kindertransports nach Großbritannien zu flüchten, sie wurden dabei aber von ihrer Familie getrennt. Anstrengungen, Eltern und Geschwister nachzuholen, waren oft vergeblich.
Gelang die Ausreise, blieb vielen Geflüchteten der Moment der ersten Grenzüberquerung als besonders prägend in Erinnerung: die unmittelbare Bedrohung wich einem Gefühl der Erleichterung. Rasch sahen sie sich aber mit neuen Problemen konfrontiert. Zwar waren sie nun (zumindest vorübergehend) keiner Verfolgung mehr ausgesetzt, doch mussten sie sich in einem fremden Land und in einer fremden Sprache eine neue Existenz aufbauen. Ihren Besitz durften sie zumeist nicht mitnehmen; er wurde von den Machthabern eingezogen. In dieser schwierigen Situation kam jüdischen Hilfsorganisationen, die die Geflüchteten bei Flucht und Neubeginn unterstützten, eine tragende Bedeutung zu.
Beispiele geflüchteter SalzburgerInnen
Familie Pasch, der Salzburg sein erstes modernes Schuhgeschäft verdankt, gelang die Flucht über England in die USA, wo sie in New York Stofftiere in Heimarbeit nähte, um sich über Wasser zu halten. Familie Bonyhadi, die das Galanteriewarenfachgeschäft Fuchs und Company betrieb, hatte Glück, in Portland Arbeit in einer Fabrik, Schiffswerft und Restaurantküche zu finden. Beide Familien konnten ihr Ziel, wieder ein eigenes Geschäft zu gründen, durch Jahre harter Arbeit verwirklichen. Sie blieben in den USA. Manche Familienmitglieder besuchten Österreich ab und an. Ernest Bonyhadi, der die Flucht als Kind erlebte, kam 1945 als amerikanischer GI mit ambivalenten Gefühlen zurück nach Salzburg. In späteren Jahren besuchte er regelmäßig seine alte Heimat und fand viele neue Freunde.
In der Welthandelsmetropole Shanghai war es aufgrund der schwierigen politischen Lage ungleich schwieriger, sich eine neue Existenz aufzubauen. Juden und Jüdinnen mussten ab dem Kriegseintritt Japans 1941 in einem abgeschlossenen Distrikt leben, der nur mit japanischer Genehmigung verlassen werden durfte. Wie Arthur Kohn waren viele Männer im KZ Dachau, bevor sie – oft mit Hilfe der Ehefrauen – nach Shanghai flüchten konnten. Kohns Ehefrau folgte ihrem Mann mit ihren vier Töchtern über die Transsibirische Eisenbahn ins Exil. Dort hielten sie vor allem zu anderen deutschsprachigen Flüchtlingen Kontakt. Man suchte das Bekannte, weniger das Fremde. Nach der Befreiung 1945 wollte Frau Kohn nicht mehr zurück nach Salzburg, konnte sich aber gegen ihren Mann, der Heimweh nach Salzburg hatte, nicht durchsetzen.
Familie Margules konnte nach England flüchten. An ihrem Beispiel wird deutlich, dass sich die Rollenbilder durch die Erfahrung von Diskriminierung und Flucht verkehren konnten: Rabbiner David Margules wurde im KZ Dachau so schwer gefoltert, dass er sich zeitlebens nicht mehr erholen konnte; er war ein gebrochener Mann. Seine 17-jährige Tochter Nina Liebermann musste die ehemals väterliche Rolle übernehmen und die Familie ernähren. Diese traumatischen Erfahrungen machten Nina Liebermann eine Rückkehr – auch nur für einen kurzen Besuch – unmöglich.
- Eveline Brugger / Martha Keil / Albert Lichtblau / Christoph Lind / Barbara Staudinger, Geschichte der Juden in Österreich, Wien 2006.
- Daniela Ellmauer / Helga Embacher / Albert Lichtblau (Hg.) Geduldet, Geschmäht und Vertrieben. Salzburger Juden erzählen, Salzburg / Wien 1998.
- Daniela Ellmauer, Salzburger Juden im Exil, in: Helga Embacher (Hg.), Juden in Salzburg. History, Cultures, Fates, Salzburg 2002, 84-101.
- Helga Embacher, Exil als neue Heimat, in: Marko M. Feingold (Hg.), Ein ewiges Dennoch. 125 Jahre Juden in Salzburg, Wien / Köln / Weimar 1993, 435-460.