Aufwachsen mit Religion und Tradition

Marko Feingolds Großeltern lebten streng nach religiösen Vorschriften und erzogen auch ihre Kinder in dieser traditionellen Lebensform. Gittel, seine Großmutter väterlicherseits, trug einen Scheitl (= eine Perücke, die fromme jüdische Frauen ab ihrer Heirat tragen, um ihr eigenes Haar zu bedecken) und galt als Autoritätsperson in der Familie. Sein Großvater väterlicherseits, Israel Peissach, war für die religiöse Erziehung seiner Nachkommen zuständig – und damit auch für jene von Marko Feingold und seinen beiden Brüdern. Er führte die drei Knaben in das Judentum ein, brachte ihnen bei zu beten und das hebräische Alphabet zu lesen. Da Marko zu diesem Zeitpunkt noch sehr jung war, behielt er nur wenig von dem Erlernten. Der Großvater verstarb 1920, als Marko erst sieben Jahre alt war.

Mutter Cilly Feingold war es wichtig, den Haushalt koscher zu führen. Dies war auch deshalb möglich, weil es ausreichend koschere Lebensmittelläden auf der Mazzesinsel gab. Sie war auch darauf bedacht, während des Sommerurlaubes Orte zu wählen, in denen Restaurants nach rituellen Vorschriften geführt wurden (z. B. Bad Vöslau oder Baden).

Die Feingolds waren Mitglied einer kleinen religiösen Gemeinde und gingen zu den hohen jüdischen Feiertagen wie Jom Kippur (Bußtag) und Rosch Ha-Schana (jüdisches Neujahrsfest) in die Synagoge. Zu Hause wurde Pessah (Auszug aus Ägypten) und für die Kinder das Lichterfest Chanukka gefeiert. Der wöchentliche Shabbat war vor allem ein zentrales Familientreffen, bei welchen Marko Feingold mit vielen seiner Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen regelmäßig zusammentraf.

Vater Heinrich war es zwar wichtig, dass seine Kinder nach den religiösen Vorschriften erzogen wurden, er selbst hielt sich aber außerhalb des Hauses wenig daran. Marko Feingold beschrieb ihn als liberalen Juden. Als der Vater immer häufiger auf Handelsreisen ging, verlor die Ausübung religiöser Traditionen in der Familie mehr und mehr an Bedeutung und die Mutter gab um 1930 schließlich die koschere Haushaltsführung auf.

Noch weiter von der Einhaltung religiöser Gesetze entfernten sich schließlich die Kinder. So fuhr Marko Feingold auch am Shabbat mit der Straßenbahn und holte sich ab und zu eine Burenwurst im Prater. Als Heranwachsender bewegte er sich sowohl in der jüdischen als auch nicht-jüdischen Gesellschaft und zeigte Interesse für gesellschaftliche Randgruppen.

Diese Entwicklung über drei Generationen hinweg zeichnete sich auch in zahlreichen weiteren jüdischen Zuwandererfamilien Wiens ab: Während die Großeltern noch sehr auf jüdische Traditionen bedacht waren und ein religiöses Leben führten, hielt sich die nächste Generation immer weniger an religiöse Vorschriften. Die in Wien geborene Generation lehnte diese oft gänzlich ab, womit eine Akkulturation in die nicht-jüdische Gesellschaft einherging.

Literaturempfehlung:
  • Ruth Beckermann (Hg.), Die Mazzesinsel – Juden in der Wiener Leopoldstadt 1918–1938, Wien 1984.
  • Marko M. Feingold, Wer einmal gestorben ist, dem tut nichts mehr weh. Eine Überlebensgeschichte, hg. von Birgit Kirchmayr / Albert Lichtblau, Wien 2000 (2. Auflage Salzburg / Wien 2012).
  • Frank Stern (Hg.), Wien und die jüdische Erfahrung 1900–1938. Akkulturation – Antisemitismus – Zionismus, Wien u. a. 2009.