Auswanderung nach Palästina - Die "Bricha" in Salzburg
Osteuropa war für viele jüdische Überlebende ein einziger Friedhof. Nur 14 Monate nach dem Ende der Shoah ermordeten Bewohner der polnischen Stadt Kielce 40 Juden und Jüdinnen. Mit diesem Pogrom machten sie vielen jüdischen Shoah-Überlebenden die Hoffnung, endlich in Sicherheit leben zu können, vollends zunichte. Panikartig verließen zehntausende Juden und Jüdinnen das Land. Vor allem junge Überlebende sahen in der Idee des Zionismus einen letzten Halt und sie entschieden sich für die schwierige Flucht nach Palästina. Viele wollten aber auch in die USA.
Bis zur Gründung des Staates Israel im Mai 1948 war die Einreise nach Palästina von der britischen Mandatsmacht allerdings limitiert. Die Briten waren mit Unruhen zwischen der jüdischen und arabischen Bevölkerung sowie mit Terroranschlägen von beiden Seiten konfrontiert. Griffen britische Soldaten Juden und Jüdinnen beim Versuch einer illegalen Einwanderung auf, wurden sie in Internierungslagern – anfangs in Palästina, ab 1946 auch auf Zypern – festgehalten. Auch in Österreich und Deutschland versuchte die britische Besatzungsmacht, die illegale Ausreise jüdischer Überlebender nach Palästina zu stoppen. Die innereuropäischen Grenzen wurden somit immer undurchlässiger.
Die Bricha (hebräisch für ‚Flucht‘)
Die Bricha war eine zionistische Organisation, die gegen Ende des Zweiten Weltkrieges von jüdischen Partisanengruppen und Überlebenden des Warschauer Ghettoaufstandes gegründet wurde. Ihre Leitung übernahm der Widerstandskämpfer und Zionist Abba Kovner. Die Bricha verfolgte das Ziel, Überlebenden der Shoah eine organisierte und geschützte Ausreise nach Palästina zu ermöglichen, zumal die jüdischen Überlebenden für den Aufbau eines jüdischen Staates benötigt wurden.
Oberster Funktionär der Bricha in Österreich war der in Wien geborene Asher Ben-Nathan. Er flüchtete nach dem „Anschluss“ 1938 nach Palästina und kehrte 1945 nach Österreich zurück, um jüdischen Flüchtlingen bei der Ausreise zu helfen. Bricha-Kommandant in Salzburg war der litauisch-jüdische Freiheitskämpfer Aba Gefen, mit dem auch Marko Feingold, der viele Transporte von der Stadt Salzburg zum DP-Lager in Saalfelden und über die italienische Grenze begleitete, zusammenarbeitete. Ehemalige Mitglieder der Jewish Brigade, die mit der britischen Armee nach Europa gekommen sind, übernahmen – oft mit gefälschten Identitäten – wichtige Funktionen in DP-Lagern.
Salzburg als wichtige Transitregion
Die Bricha verfügte über Stützpunkte in Polen, der Tschechoslowakei, in Ungarn, der Westzone Deutschlands, in Österreich, Belgien, Frankreich und Italien. Eine wichtige Fluchtroute führte über Wien zu den DP-Lagern im US-amerikanisch besetzten Salzburg und von hier weiter über die österreichisch-italienische Grenze.
Salzburg wurde aus zwei Gründen zu einem bedeutsamen Zentrum der jüdischen Auswanderung nach Palästina:
- Die US-amerikanischen Besatzer in Österreich kooperierten mit der Bricha und duldeten die illegalen Wanderbewegungen. In der Stadt Salzburg entstanden daher bedeutsame Niederlassungen amerikanisch-jüdischer Hilfsorganisationen, die die Bricha auch finanziell unterstützten. Die jüdischen DP-Lager in der Stadt Salzburg, Puch bei Hallein, Bad Gastein und Saalfelden wurden zu zentralen Transitlagern.
- Die geographische Lage Salzburgs war vorteilhaft: Zum einen war Salzburg von Wien aus gut erreichbar, zum anderen konnte man in wenigen Stunden zur österreichisch-italienischen Grenze gelangen. Eine besondere Rolle spielte von März November 1947 das kleine Stück salzburgisch-italienische Grenze in hochalpinem Gelände der Krimmler Tauern spielen. Es war der einzige Grenzabschnitt nach Italien, der nicht in der französischen und britischen Zone lag.
Anfangs war der Brennerpass der wichtigste Grenzübergang nach Italien, da dieser am einfachsten passierbar war. Nachdem die britischen und französischen Besatzungssoldaten ihre Kontrollen verschärften, mussten Mitarbeiter der Bricha allerdings andere Wege finden. Sie begleiteten die Flüchtlinge eine Zeit lang über den weiter westlich gelegenen Reschenpass, ehe sich auch dort der Grenzübergang als zu gefährlich erwies. 1947 blieb Mitarbeitern der Bricha nichts anderes übrig, als die Flüchtlinge über die hochalpine salzburgisch-italienische Grenze zu lotsen. Viktor Knopf (s. Link), er stammte aus Schlesien und wurde in Ebensee befreit, kam als Bergführer eine wichtige Rolle zu. Er blieb in Zell am See, wo der gelernte Kristallschleifer und Sportlehrer als Buchhalter arbeitete und sich integriert fühlte.
Die Flucht über den Krimmler Tauern
Ausgangspunkt für die Überquerung des Gebirgspass war das DP-Lager in Saalfelden. Die Flüchtlinge wurden dort abgeholt und nach Krimml gefahren, wo der kräftezehrende Weg begann. Dieser führte sie über das Krimmler Tauernhaus weiter in hochalpines Gelände, um über die Birnlucke schließlich nach etwa 15 Stunden ins Ahrntal in Südtirol zu gelangen. Die von der Bricha bestochenen Grenzbeamten legten den Flüchtlingen nichts in den Weg.
Mit der Ankunft in Italien war der Weg nach Palästina allerdings keineswegs frei, da die Briten auch auf offener See die Einreise verhinderten. Nur ein kleiner Teil schaffte es nach Palästina, viele mussten in Zypern erneut in einem Lager die offizielle Gründung des jüdischen Staates abwarten.
Nach der Staatsgründung Israels im Mai 1948 löste sich die Bricha allmählich auf. Insgesamt wurden rund 250.000 Shoah-Überlebende mit ihrer Hilfe nach Palästina geschleust, davon mussten zwischen 5.000 und 8.000 den Weg über den Krimmler Tauern gehen. Der Verein Alpine Peace Crossing (s. Link), bei dem Marko Feingold Ehrenmitglied war, organisiert jährlich Gedenkveranstaltungen und -wanderungen zur Flucht über den Krimmler Tauern.
- Thomas Albrich (Hg.), Flucht nach Eretz Israel. Die Bricha und der jüdische Exodus durch Österreich nach 1945, Wien / Innsbruck 1998.
- Sabine Aschauer-Smolik und Mario Steidl (Hg.), Tamid Kadima – Immer Vorwärts. Der jüdische Exodus aus Europa 1945-1948, Innsbruck / Wien / Bozen 2010.
- Helga Embacher, Neubeginn ohne Illusionen, in: Marko M. Feingold (Hg.), Ein ewiges Dennoch. 125 Jahre Juden in Salzburg, Wien / Köln / Weimar 1993, 285–336.
- Marko M. Feingold, Wer einmal gestorben ist, dem tut nichts mehr weh. Eine Überlebensgeschichte, hg. von Birgit Kirchmayr / Albert Lichtblau, Wien 2000.
- Susanna Kokkonen, Jewish Displaced Persons in Postwar Italy, 1945–1951, in: Jewish Political Studies Review, 20 (2008) 1, 91–106.
- Susanne Rolinek, Jüdische Lebenswelten 1945–1955. Flüchtlinge in der amerikanischen Zone Österreichs, Innsbruck 2007.