Debatten um einen „neuen“ Antisemitismus und politische Neupositionierungen
Nachdem die Osloer Friedensprozesse zu Beginn des 21. Jahrhunderts endgültig scheiterten, brachen gewaltsame Konflikte in Israel und Palästina aus. Zur gleichen Zeit wurde in einigen europäischen Ländern – insbesondere in Frankreich, Großbritannien, den Niederlanden, und Belgien – ein sprunghafter Anstieg antisemitischer Tathandlungen registriert. Beide Phänomene standen in Zusammenhang zueinander: die antisemitische Gewalt in Europa war in vielen Fällen eine Reaktion auf die Konflikte im Nahen Osten. Dazu trat eine neue Tätergruppe in den Vordergrund: jugendliche Muslime mit arabischer Migrationsgeschichte – und damit Personen, die selbst starker Diskriminierung und Ausgrenzung ausgesetzt sind. Diese Erkenntnis führte zu heftigen politischen, aber auch wissenschaftlichen Debatten. Österreich war davon anfangs weniger betroffen, hier verübten weiterhin hauptsächlich Rechtsextreme antisemitische Handlungen.
Dies änderte sich vor allem im Sommer 2014, als erneut ein Krieg zwischen Israel und der in Gaza regierenden Hamas ausbrach. Auch in Österreich wurden nun erstmals große pro-palästinensische Demonstrationen organisiert. Diese verliefen grundsätzlich friedlich, doch wurden antisemitische Äußerungen und vereinzelt auch Tathandlungen registriert. In anderen europäischen Ländern wie Deutschland oder Frankreich kam es zu gewaltsamen Übergriffen auf jüdische Personen und Einrichtungen, in Frankreich und Belgien in den Jahren davor und danach sogar zu Morden an Juden durch islamistische Terroristen.
Vor diesem Hintergrund nahm die Angst unter jüdischen ÖsterreicherInnen, Opfer antisemitischer Gewalt zu werden, rasch zu. Diese Angst wurde zusätzlich verstärkt, als mit der „Europäischen Flüchtlingskrise“ 2015 zahlreiche Schutzsuchende aus arabischen Ländern nach Österreich kamen.
Gleichzeitig inszenierte sich die Parteispitze der Freiheitlichen Partei Österreich (FPÖ) als „Beschützerin der Juden“ vor muslimischen Zuwanderern und positionierte sich betont israelfreundlich. Parallel dazu kam es innerhalb der FPÖ mit ihrer langen Geschichte judenfeindlicher und NS-relativierender Vorfälle aber weiterhin zu antisemitischen Manifestationen. Diese Situation führte insbesondere in der IKG zur Frage, was gefährlicher sei: der Antisemitismus seitens MuslimInnen oder der Antisemitismus der Rechtsextremen? Präsident Oskar Deutsch lehnte die FPÖ weiterhin entschieden ab und sprach sich 2017 auch gegen eine FPÖ-Regierungsbeteiligung auf Bundesebene aus (die letztlich von Dezember 2017 bis Mai 2019 zustande kam). Mit dieser Haltung repräsentierte er keineswegs alle jüdischen ÖsterreicherInnen, sondern erntete vereinzelt sogar heftigen Widerspruch. Auch der Holocaustüberlebende und österreichische Künstler Arik Brauer machte 2018 deutlich, dass er größere Angst vor Antisemitismus Geflüchteter hätte als vor Antisemitismus österreichischer Rechtsextremer, da er erstere für gewaltbereiter und daher auch für gefährlicher halte. Als ein Boykott der FPÖ bei der Internationalen Befreiungsfeier in Mauthausen diskutiert wurde, sprach er – im Gegensatz zu Deutsch – klar dagegen aus.
Auch Marko Feingold unterschied sich in seiner Haltung von jener Oskar Deutschs und bekam dafür große mediale Aufmerksamkeit. Er sprach sich schon im Vorfeld für eine türkis-blaue Regierung aus und feierte seinen 105. Geburtstag im Jahr 2018 gemeinsam mit Bundeskanzler Sebastian Kurz und dem damaligen Vizekanzler Heinz-Christian Strache. Dass er keine Berührungsängste mit der FPÖ hatte, zeigte er bereits im Jahr 2000, als er eine Spende der FPÖ in der Höhe von 400.000 Schilling für die Gründung eines jüdischen Kulturzentrums in Salzburg annahm.
Marko Feingold äußerte sich im Kontext der „Flüchtlingskrise“ immer wieder pauschal ablehnend gegenüber muslimischen Schutzsuchenden und begründete diese Haltung mit der Annahme, sie seien antisemitisch und würden damit eine neue Bedrohung für Juden und Jüdinnen in Europa darstellen. Gleichzeitig wies er aber auch auf die Kontinuität des traditionellen Antisemitismus unter „autochthonen“ ÖsterreicherInnen hin.
Jüngste Vorfälle und Reaktionen der österreichischen Bundesregierung
Immer wieder kommt es zu antisemitischen Tathandlungen, die diese Debatten neu entfachen.
So versuchte im Oktober 2019 ein rechtsextremer Deutscher einen Massenmord an Juden und Jüdinnen in der Synagoge in Halle an der Saale durchzuführen, der dank versperrter Synagogentür scheiterte. Er ermordete daraufhin zwei Menschen im nahegelegenen Umfeld. Damit rückte die Gefährlichkeit eines rechtsextremen Antisemitismus auch in Österreich wieder stärker ins Bewusstsein.
Am 22. August 2020 wurde der Präsident der IKG Steiermark, Elie Rosen von einem syrischen Staatsbürger mit einem Stuhlbein attackiert. Die Tat ging glimpflich aus. Als Motiv (s. Link Süddeutsche Zeitung) nannte der Täter Hass auf Israel, Juden, aber auch auf Homosexuelle und Prostituierte.
Nach diesem Vorfall rief die österreichische Bundesregierung eine Nationale Strategie gegen Antisemitismus (s. Link) ins Leben. Mit dieser verfolgt sie das Ziel, jüdisches Leben in Österreich zu schützen und zu fördern. Sie versteht diese Strategie, die 38 Ziele enthält, auch als klares Zeichen der Verantwortung Österreichs, betont, alle antisemitischen Formen zu bekämpfen und Präventionskonzepte gegen Antisemitismus zu entwickeln. Mit der Entwicklung dieser Strategie unterstreicht die Bundesregierung somit die Bedeutung jüdischen Lebens für Österreich. Es bleibt abzuwarten, wie ihre Umsetzung gelingt.
- Helga Embacher / Bernadette Edtmaier / Alexandra Preitschopf, Antisemitismus in Europa. Fallbeispiele eines globalen Phänomens im 21. Jahrhundert, Wien / Köln / Weimar 2019.
- Christian Heilbronn / Doron Rabinovici / Natan Sznaider (Hg.), Neuer Antisemitismus?. Fortsetzung einer globalen Debatte, Berlin 2019.
- Holz, Klaus, Die Gegenwart des Antisemitismus. Islamistische, demokratische und antizionistische Judenfeindschaft, Hamburg 2005.
- Doron Rabinovici / Ulrich Speck / Natan Sznaider (Hg.), Neuer Antisemitismus?. Eine globale Debatte, Frankfurt/M. 2005.