Christian Kern

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Christian Kern


Interview mit Mag. Christian Kern
im Rahmen des Buchprojekts „Die große Flucht“

2010–2016 Generaldirektor der ÖBB;
2016–2017 Bundeskanzler der Republik Österreich

Datum: 7. Mai 2019
Ort: Wien
Dauer: 00h 46min 30sec (1 Track)
Interviewer: Dr. Heinz Schaden

HS = Heinz Schaden (Interviewer)
CK = Christian Kern

 

 

 

 

TRANSKRIPT DES INTERVIEWS
[Ergänzungen in eckigen Klammern wurden bei der Transkription vorgenommen und dienen dem besseren Verständnis.]


HS: Ja – deine Einschätzung: Warum haben wir 2015 diese, ich sage ‚neuzeitliche Völkerwanderung’ erlebt – und vielleicht gleich: Wie war damals die Stimmung in Österreich – also im Vorfeld hat es ja schon, ich sage einmal erste Anzeichen gegeben, und dann war diese wilde Geschichte an der Autobahn im Burgenland mit den 71 Toten – also erzähl einfach, wie du das empfunden hast, und wie du das auch interpretierst, was die Ursachen waren.

CK: Ja, was ich vor allem erlebt habe, war eigentlich eine Lektion der Geschichte. Dass man nämlich, wenn man nicht rechtzeitig das Verständnis hat, dass man nicht allein auf dieser Welt ist, dass einem Entwicklungen, die außerhalb unserer europäischen Grenzen, unserer österreichischen Grenzen stattfinden, die nicht ernst nimmt, man irgendwann einmal mit der Situation konfrontiert wird, dass die Probleme so groß sind, dass man sie gar nicht mehr einfach lösen kann. Und im europäischen Fall ist das eigentlich gewesen, dass [es] vor den Augen der Weltöffentlichkeit passiert ist, dass einerseits eine massive Dürre in Syrien eine Rolle gespielt hat – Stichwort Klimawandel –, es zu einer Abwanderung der Landbevölkerung in die Städte gekommen ist, die Leute nichts zu essen hatten, gehungert haben mit ihren Kindern, ihren Familien – und damit der Nährboden geschaffen worden ist für Radikalisierung in diesen Landstrichen. Dazu kommen die Auseinandersetzungen, die kriegerischen, vom Irak abwärts, [da] muss man sagen, [da] hat der Westen eine Blutspur hinterlassen, eine nachhaltige – und dann auch noch, in der Situation, das Streichen der UNHCR-Mittel. Wie materiell das Auswirkungen hat[te], mag ich gar nicht beurteilen, aber es war symbolisch so relevant: Wir verursachen Probleme durch unseren Lebensstil, durch unsere außenpolitischen Entscheidungen auf der einen Seite, und sind dann nicht bereit, die Konsequenzen zu nehmen. Und das Resultat ist gewesen, dass sich da eine Krise zusammengebraut hat, die ja lange vor 2015 schon absehbar gewesen ist, aber die wir in Europa mit unserer extrem eurozentristischen Perspektive nicht wahrgenommen haben. Die Amerikaner haben es sowieso ignoriert, weil die, für die war das alles weit weg, wenn man so will. So, das war der Auslöser, eigentlich, eines kollektiven Politikversagens, würde ich es einmal nennen. Und was dann passiert ist, das war die Erfahrung, die ich persönlich gemacht habe, ist, dass dann diese Entwicklungen insbesondere aus dem Ruder zu laufen gedroht haben, wie sich die Menschenmenge in Ungarn gesammelt hat und damals ja diese unglaublichen Bilder um die Welt gegangen sind – ich will nicht sagen von misshandelten Leuten, aber von Leuten, die man jedenfalls nicht sehr mit Anstand und Menschlichkeit dort behandelt hat. Und es war, glaube ich, damals in der Bevölkerung wirklich ein Bedürfnis da, zu helfen, bei den vielen Bildern dieser Massen, dehydrierte Leute, kleine Kinder auf Bahnsteigen, die quasi auf dem Boden gelegen sind, usw. Und das war in der ersten Phase wirklich eine unglaubliche Euphorie, aber ich weiß noch als dann vereinbart wurde – auch aufgrund dessen, was Angela Merkel ja damals zugesagt hat, dass die Menschen weiterreisen können – was das für eine Stimmung gewesen ist, eigentlich, also, man hat geholfen, jeder war mit sich im Reinen – es war eine regelrechte Euphorie, und ich muss sagen, besonders dramatisch [waren] diese Bilder: erst Fernsehbilder von den getretenen Flüchtlingen – du erinnerst dich, an eine Reporterin, die da nachhilft und so den armen Menschen, den armen Teufel da zusammentritt – und dann am nächsten Tag, wie die ‚New York Times’ vom Westbahnhof in Wien berichtet hat auf der Titelseite. Und ich finde, das war eigentlich eine Sternstunde unseres Landes, eine Sternstunde Europas, und ich finde es bedauerlich, dass da heute viele kommen und sagen „Offene Grenzen, man hat die Leute alle herein gelassen“ – was ja eine unsinnige politische Analyse ist, weil das Wesen Europas besteht in offenen Grenzen, das war die Idee der Gründerväter. Dass wir uns aber nicht rechtzeitig um die außenpolitischen Dimensionen gekümmert haben, dass wir Syrien, den Libanon, die Türkei – nicht zu vergessen – allein gelassen haben mit dem Problem, und dann vor den Auswirkungen standen, das war für mich ein entscheidender Punkt, also in den ersten Tagen war das unglaublich, also [ich habe] fast Tränen in den Augen gehabt, zu sehen, wie die Hilfsbereitschaft der Leute – nämlich nicht nur Rotes Kreuz, Caritas, Arbeiter-Samariter[-Bund], es waren ja wirklich alle da – aber es waren auch so viele Einzelpersonen da, die dann mit angepackt haben, und das war eigentlich – auch bei den ÖBB, muss ich sagen, die Leute waren wirklich stolz auf das, was sie machen durften und haben wirklich nicht Dienst nach Vorschrift gemacht, keiner hat gefragt ob er seine Überstunden bezahlt kriegt.

HS: Ja, zu den ÖBB darf ich dich dann noch speziell befragen, weil das war wirklich eine besondere Rolle von dir. [Ich] möchte nur ergänzen, ich bin ja jetzt dabei, die Vorgeschichte aufzuarbeiten, also wirklich historisch aufzubereiten, und weil du das mit Europa erwähnst – ich bin, obwohl ich es wusste – einfach so, aus, ich war ja dort in der Gegend viel unterwegs, und aus Lektüre halt – wirklich entsetzt über den Zynismus der Europäer, nämlich vor allem in der Aufteilung der Territorien während des Ersten Weltkrieges, zwischen England und Frankreich, wo die einfach gesagt haben „Syrien, das kriegt Frankreich, und Palästina, das kriegt Israel“ und die jeweiligen Einflussgebiete, also bis in den Irak hinein – und dort, damals wurde allen alles versprochen, und das zu Lasten Dritter, nämlich der bereits ansässigen Bevölkerung, also …

CK: Hast du das ‚[A] Line in the Sand’ gelesen? Das hat mir der damalige Militärkommandant, der Heinz empfohlen, das arbeitet die Geschichte dieses Sykes-Picot-Paktes auf.

HS: Ja, genau.

CK: [Das] ist wirklich extrem spannend zu lesen. Also [da] entwickelt man ein gutes Verständnis. Ich habe es leider nicht im Büro stehen, sonst hätte ich es dir in die Hand gedrückt, aber ein tolles Buch. Das hat mir eben der Heinz empfohlen, der da sehr versiert war.

HS: Ja, das Sykes-Picot-Abkommen ist ja wirklich, also – oder die Balfour-Deklaration auf der zionistischen Seite – das war ja eigentlich die Geburtsstunde des heutigen Konfliktes.

CK: So ist es. Absolut. Weißt du, was mich noch – weil das irgendwie mit der Gegenwart zu tun hat, aber ich beobachte das ja jetzt fortgesetzt, aber jetzt in einer anderen Rolle als früher – was so die Fortsetzung dieser Verrücktheit ist. Wir haben diese Lektion von 2015 erlebt. Aber die Lernerfahrung ist so begrenzt. Weil wenn du dir jetzt anschaust, den General Haftar und seinen Vormarsch in Libyen, da hast du auf der einen Seite die Franzosen, die ihn ermuntern, und auf der anderen Seite die Italiener, die den [as-]Sarradsch und das Regime da unterstützen. Das heißt, du hast in einem Land, eigentlich – ich will es nicht einen Stellvertreterkrieg nennen, das wäre übertrieben – aber ich meine, bis zum heutigen Tag hat es Europa nicht geschafft, seine außenpolitischen Interessen zu vereinbaren und gemeinsam festzulegen.

HS: Respektive immer noch dieser koloniale oder kolonialistische Wahn, zu meinen, das ist sozusagen unser Vorgarten.

CK: Genau. Und wir haben dort eine besondere Rolle, und so weiter... Und da bist du im Niemandsland. Also es ist erschreckend, und...

HS: Nichts gelernt.

CK: Muss man leider so sagen, ja.

HS: Trotz des Abstiegs vom Status der Kolonialmacht zu zum Teil kranken Männern, wie es so schön heißt, Europas.

CK: [Die] sind Nachbarländer in Europa, die sitzen im Europäischen Rat, Schulter an Schulter, trotzdem passiert so etwas. Und wir diskutieren oft die Rolle der Russen – also die sind ja von einer besonderen Rationalität geprägt, in Relation zu dem, was wir Europäer dort aufführen. Es ist so.

HS: Darf ich dich jetzt zu der besonderen Rolle der ÖBB befragen – ich schicke voraus, gerade in den ersten Wochen war für uns in Salzburg natürlich der Bahnhof die zentrale Drehscheibe, im wahrsten Sinne des Wortes, und die ÖBB, mit der Infrastruktur, mit den Zügen, auch mein wichtigster Ansprechpartner fast. Wie siehst du die Situation – du kannst gern auch ein bisschen deine österreichische Rolle mitnehmen, die ja auch ganz wesentlich war.

CK: Naja, das war eine bemerkenswerte Geschichte. Weil, als die vielen Menschen da gewesen sind, an unseren Grenzen, war aus meiner Sicht eines logisch: Es hat keine Alternative gegeben dazu, denen ein Dach über dem Kopf zu geben und den Transport in ihre zukünftigen Länder zu ermöglichen, weil in Wahrheit sind wir vor dem totalen Chaos gestanden. Mit Wasserwerfern oder Platzpatronen oder Tränengas war das Problem nicht zu lösen. Weil wir auch immer wieder gesehen haben, wenn jemand so verzweifelt ist, [über] Tausende Kilometer diese Strapazen auf sich nimmt, der lässt sich dann durch einen Zaun nicht abhalten. Und wir hätten einen unglaublichen Preis dafür zahlen müssen, wenn wir da anders reagiert hätten. Also war die Aufgabe aus meiner Sicht: Wie schafft man da Ordnung, in diesem Chaos. Und, was natürlich – das ist vielfach sehr positiv rezipiert worden, die Rolle der ÖBB, unter dem Gesichtspunkt der Menschlichkeit – und ich gebe zu, das war natürlich ein wirkliches Motiv, das uns alle angetrieben hat. Aber es war auch eine Management-Aufgabe, weil am Ende – du hast es erlebt – ich meine, Salzburg, Bahnhof, einer der Hotspots – da ist dann Ausnahmezustand. Da hast du dann, musst du wirklich schauen, dass du noch einigermaßen Strukturen hast, die funktionieren, in Wien haben wir dasselbe erlebt. Und das war so entscheidend, diese Aufgabe gemeinsam mit dir damals, als Bürgermeister, das war natürlich entscheidend, dass die Stadt da anpackt, genauso wie in Wien, muss man sagen, dass das gelöst werden konnte. Und das Interessante war, auch zu sehen, was das im Unternehmen bewirkt hat, weil, natürlich, die Menschen waren irritiert von der Situation, es war keiner vorbereitet, muss man sagen, für so etwas hat es eigentlich keinen Notfallplan gegeben. Ich habe auch das Gefühl gehabt, dass wir von der Seite der Bundesregierung nicht großartig unterstützt worden sind, also es ist viel – eben so wie bei dir – in der Stadt passiert, in Wien, in Salzburg, im Burgenland, das waren auch meine wichtigsten Gesprächspartner jeweils, die Stadträtin in Wien, Sonja Wehsely, du in Salzburg, der Hans Niessl im Burgenland, also, die sich da besonders engagiert haben. Das war, glaube ich, wirklich alternativlos. Weil wenn wir das nicht gemacht hätten – man muss sich das ja vorstellen, es fahren 1,3 Millionen Menschen jeden Tag mit der Bahn in Österreich. Und wenn die Menschen dann auf den Gleisen entlang gelaufen wären – das war ja ihr Orientierungspunkt, das wäre die Konsequenz gewesen – dann wäre wie mit einem Dominosystem der gesamte Bahnverkehr zusammengebrochen, die gesamte Infrastruktur, und zwar nicht nur rund um Wien oder rund um Salzburg, sondern das hätte durch den Netzwerkeffekt das ganze Land betroffen. Das heißt eigentlich, wenn man auch so will, habe ich das als Managementaufgabe gesehen. Ich meine, was wir gemacht haben, wir haben natürlich die Menschen damals auch in unseren Büros untergebracht, damals haben Samariter, Caritas und so weiter Feldbetten zur Verfügung gestellt, Mitarbeiter wurden ausquartiert – [es] hat aber jeder Verständnis dafür gehabt. Ich war stolz, zu sehen, dass mich nie einer gefragt hat, ob seine Überstunden bezahlt werden – [das] ist eh passiert, weil die ÖBB ja ein korrektes Unternehmen sind – aber da hat keiner gefragt „Ist das jetzt zu meinem Vorteil oder nicht?“, und für die Leute war es eine Riesen-Strapaze. Weil, je länger das gegangen ist, desto mehr haben wir natürlich gesehen, dass die Ressourcen nicht mehr vorhanden sind. Die Gespräche, die wir hatten – wo du gesagt hast „Habt ihr noch einen Zug, kann man noch etwas machen?“ – waren oft so, dass wirklich Ende der Fahnenstange war, dass kein Wagenmaterial mehr da war, dass die Leute nicht mehr da waren, weder die Zugbegleiter noch die Lokführer, und das ist natürlich ein riesiges Sicherheitsthema. Und ich muss sagen, wir haben da in Österreich auch keine übertrieben glänzende Rolle gespielt, generell, weil, wir haben uns, politisch betrachtet, damit begnügt, den Menschen zu sagen „Ok – Germany“ [deutet mit der Hand] und haben ihnen dann gezeigt, wo die Grenze ist. Und waren selbst heilfroh, dass möglichst wenige in Österreich geblieben sind. Jetzt muss man sagen – das war, glaube ich, die Überlegung auch – dass man sozusagen da die Fremdenfeindlichkeit nicht zum Ausbruch bringen wollte. Wie wir wissen, hat es nicht funktioniert, weil die Allianz aus ‚Kronen-Zeitung’ und ‚Österreich’ und einigen Politikern das natürlich so bewusst zugespitzt hat, bis zum heutigen Tag ist das zu beobachten. Aber sozusagen im historischen Verlauf, wir haben es korrekt gemanagt, als Land, aber man wird uns jetzt nicht, sozusagen, für den Friedensnobelpreis deshalb vorschlagen.

HS: Noch einmal zurück zu den ÖBB – du warst damals Generaldirektor, ist glaube ich der korrekte Titel, damit auch für das Finanzergebnis natürlich hauptverantwortlich – ist dir jemals der Vorwurf gemacht worden, damals, zeitgleich, zeitnah oder später, du hast zuerst einmal die Züge fahren lassen und gar nicht gefragt nach Rechnungen zunächst, sondern …

CK: Ja, das waren, viele haben sich darüber …

HS: Du hast das sozusagen auf deine Kappe genommen.

CK: Da haben sich etliche darüber beschwert, jetzt muss man aber dazu sagen, dass die meisten dafür Verständnis gehabt haben. Wir haben natürlich hinterher dem Innenministerium eine Rechnung gestellt, also ich glaube, die ist bis zum heutigen Tag offen – war uns eh klar, [es] ist uns auch nicht darum gegangen. Aber die ÖBB sind eine Aktiengesellschaft, ich habe immer den Ansatz vertreten: Das ist kein politisches Institut, sondern muss wie ein Wirtschaftsunternehmen geführt werden. Das war damals ein Neben-Scharmützel, und die ÖVP hat natürlich Spaß daran gehabt, zu sagen „Die Roten, die ÖBB, die kriegen nichts“, und das war halt so sinnlos abgespeichert, hat eh nicht gestimmt – wir haben das dann irgendwann einmal aufgegeben, mit Nachdruck zu verfolgen.

HS: Ja, ich habe ähnliche Erfahrungen gemacht, weil die Stadt natürlich eigentlich auch nie etwas gesehen hat.

CK: Auch nicht? Interessant.

HS: Ich habe damals eine Notverordnung gemacht, und [wir] haben gesagt „Was immer es braucht, das Geld ist da. [Das] wird zur Verfügung gestellt, und die Rechnungen stellen wir später“. Die haben wir dann auch gestellt, aber da hat es dann irgendwann eine Pauschalentschädigung an die Bundesländer gegeben, von denen wir nie etwas gesehen haben, und damit waren auch die Gemeinden angeblich bedient. Aber sei es drum, es war – das Finanzielle war damals, wie du richtig sagst, eigentlich nicht das Primäre, sondern das Primäre war „Wie gehen wir damit um“. Und da muss ich sagen, also – ja, [der] Friedensnobelpreis ist es nicht, aber gemessen daran, was davor und danach – auf das komme ich noch ein bisschen – passiert ist, war es nicht so übel, in meiner Einschätzung jetzt, also, besonders in den ersten Wochen.

CK: Das muss man auch ganz klar sagen. Aber es war, wenn man so will – du hast ein paar staatliche Institutionen gehabt, wie zum Beispiel die Gemeinde Salzburg eben. Dann hast du ein Unternehmen gehabt wie die ÖBB, die da eine Rolle gespielt haben. Dann hast du aber die ganzen Hilfsorganisationen gehabt – und mein Eindruck ist gewesen, dass sich diese Player da sehr gut untereinander organisiert hatten. [Da] gab es ja auch regelmäßig die Meetings, [da] muss man fair sein, auch das Innenministerium war immer dabei, der Generaldirektor [für] öffentliche Sicherheit hat sicherlich da auch eine positive Rolle gespielt, wenngleich natürlich auch in einer sehr schwierigen Aufgabensituation. Das ist schon so, aber ich denke, wir haben das damals ordentlich gemacht, aber sozusagen die politische Intention, „Wir nehmen jetzt Menschen in Not auf, integrieren sie in unsere Gesellschaft“ – die hat es nie gegeben.

HS: Nein, sicher nicht. Hast du eigentlich persönlich auch Kontakt zu Flüchtlingen gehabt in der Zeit, als ÖBB-Chef – ich nehme an, du warst spätestens in Wien am Westbahnhof da involviert …

CK: Jaja, das war intensiv, also diese Erfahrungen auf den Bahnhöfen waren wirklich beeindruckend – auch zu sehen, diese Dankbarkeit, auch diese Verzweiflung, teilweise auch die Angst, die die Leute hatten – ich weiß noch gut, ich meine, einmal war es elf Uhr am Abend und eine Frau hat am Bahnsteig ihr Kind gesucht, also die war aufgelöst ohne Ende, hat nicht gewusst wo sie ist, was da passiert. Wir wollten der damals helfen, ein Mitarbeiter und ich, und [haben] dann richtig gemerkt, wie die voller Angst und Panik ist, weil sie nicht gewusst hat, wer wir sind. Also, wenn ich mich da vorgestellt hätte, als Chef der ÖBB [lacht], wäre das ein sinnloses Unterfangen gewesen, nicht zuletzt wegen der Sprachbarriere. Das haben wir erlebt, intensiv. Wir haben dann auch – eine der Konsequenzen war, dass wir dann auch bei den Lehrlingen, die wir ausgebildet haben, einem Anteil an jungen Leuten, die da gekommen sind, auch versucht haben, eine Berufsperspektive zu geben. Weil, [das] werde [ich] nie vergessen, eine unserer besten Lehrlinge war ein junges Mädchen aus Afghanistan, die ist nach Österreich gekommen, zwei Jahre Vorlauf, hat die Lehre begonnen, hat mit Auszeichnung absolviert – also, ich muss sagen, ich habe wirklich nur so geschaut, da haben wir die tollsten Erfahrungen gemacht. Und ich glaube, insgesamt hat die Bahn da ihre Verantwortung wahrgenommen, den Leuten eine Perspektive gegeben – nicht nur da, sondern auch vielen Jugendlichen, vor allem auch alleinstehenden, in Österreich dann eine Perspektive gezeigt. Und da haben wir unglaublich viele Erfolgserlebnisse gehabt dabei.

HS: Es hat sich ja danach der politische Diskurs in Österreich – aus meiner Wahrnehmung zumindest – anders entwickelt. Also, es ist ja, wie es akut war, hat man eigentlich – jetzt mit Ausnahme der Rechtsextremen – nicht so viele üble Töne vernommen. Danach schon. Wie schätzt du das ein: Wie hat sich dein Weltbild verändert, wie hat sich die Rezeption in Österreich durch diese Geschehnisse verändert – ich sage jetzt nur Ausländerdebatte als Wortkeule und politisches Instrument, das ja leider intensiv eingesetzt wird.

CK: Ich muss sagen, ich finde den ganzen öffentlichen Diskurs darüber – also was da oft in den Zeitungen für Projektionen vertreten werden oder in öffentlichen Debatten, das wundert mich, und ich halte das für viel zu wenig reflektiert und überlegt, aus folgendem Grund nämlich: Wir haben natürlich gewusst, da kommen Menschen mit einer völlig anderen Lebenserfahrung, teilweise nicht besonders gut ausgebildete. Wir haben auch gesehen, dass das natürlich unsere Gesellschaft im höchsten Maß fordern wird, aber wir haben Realitäten auch, wenn man so will, zur Kenntnis zu nehmen. Und es ist ja eine Illusion, es hat ja keiner die Leute eingeladen, die sind dort weg [gegangen], weil ihre Lebensgrundlagen zerstört worden sind. Das war ja nicht die Angela Merkel, der Werner Faymann, der gesagt hat „Bitte kommt“ – das ist ja eine Idiotie. Und was wir dann in der Folge natürlich gemacht haben, ist schon, diese Probleme zur Kenntnis zu nehmen und daran auch zu arbeiten. Das hast du gesehen zum Beispiel, indem wir dieses Integrationspaket gemacht haben. Wir haben dort Millionen Euro in Sprachausbildung, Berufsausbildung, Integration – [wo wir] da auch die Mindestsicherung dranbinden wollten – solche Maßnahmen haben wir begonnen, und haben, glaube ich, sehr realistisch das gemacht, was getan werden muss, auch was unsere europäische Rolle betrifft. Aber dort hast du – entschuldige, wenn ich da ein bisschen lang bin – zwei Verästelungen gehabt: Das Eine ist, wir haben das immer sehr pragmatisch versucht zu lösen, während die Rechten, Rechtspopulisten aller Art, dann immer das benutzt haben, um politisch Stimmung zu machen. Und meine Angst ist immer gewesen, wenn wir anfangen, politisch Stimmung zu machen, wenn wir das nicht versuchen, besonnen zu formulieren, dann lösen wir in unserer Gesellschaft etwas aus. Und irgendwann hast du das Problem nicht mehr im Griff, du fängst – wir kennen diese Lektion aus unserer Geschichte, das fängt an mit einer kleinen Welle, und irgendwann wird ein Tsunami daraus, der dich wegspült, und die ganze Gesellschaft verroht. Und das fängt dann vielleicht mit den Moslems und den Flüchtlingen an, geht dann zu den Juden weiter, und zu den politisch Andersdenkenden – ich habe das alles gelernt. Deshalb war ich da immer extrem vorsichtig und habe auch bei den härteren Maßnahmen, haben wir nie das groß an die Glocke gehängt – ich gebe zu, vielleicht auch vor der falschen Angst, dass wir den Applaus der falschen Leute kriegen, man muss schon sagen, das hat, um diese Geschichte nicht zu befeuern – aber auch, weil wir gesagt haben, ok, das steht pragmatischen Lösungen im Weg. Bleib bei der ‚Vollholler-Geschichte’ – ok, das war ein zugespitzter Sager. Aber die Schließung der Mittelmeerroute zuvor dann, ohne dafür irgendeinen Beitrag zu leisten, damit dort was passiert, weder den Ausbau von Frontex noch die Erhöhung der Hilfsmittel in Libyen und an der Nordküste Afrikas – das ist einfach ein ‚Vollholler’. Und es ist auch nicht passiert – also auch wenn die ‚Kronen-Zeitung’ das dann abfeiert und sagt „Supertoll“ – nein, nichts ist passiert, bis zum heutigen Tag ist in Wahrheit nichts passiert. Das einzige was passiert ist, wir modulieren die Zahl der Leute, die wir im Meer ertrinken lassen. Und darauf brauchen wir nicht stolz sein. Und da hast du natürlich auch den zweiten Strang dann gehabt: Ich war ja dabei bei diesen Valletta-Beschlüssen im Europäischen Rat, wo unter anderem beschlossen worden ist, dass wir die lybische Küstenwache ausrüsten. Das haben die Italiener in die Hand genommen, Gentiloni [ehem. Ministerpräsident von Italien, Anm.] hat das verhandelt, Europa hat das nachvollzogen und Mittel zur Verfügung gestellt, weil man gesagt hat „Ok, die Italiener werden sonst der Situation nicht Herr“. Aber das war ja auch wiederum so ein, der Versuch, sozusagen die Zahnpasta, die aus der Tube ist, einzufangen. Weil die Gegenposition ist gewesen, dass wir weggeschaut haben, gesagt haben „Ok, die regeln das für uns“ – und das Resultat war, dass wir Lager geerntet haben, wo Massenvergewaltigung, Folter, Mord und Totschlag wir kassiert haben. Und der einzige Grund, warum wir damit umgehen konnten, war, dass wir nicht mehr hingeschaut haben. Das heißt, wir haben in all dieser Zeit keine Lösungen produziert, die, wenn man so will, unserer christlichen – auch christlichen sozialdemokratisch geprägten Kultur der Nächstenliebe und der Solidarität – auch nur irgendwie entsprechen. Und das war die Thematik, die wir hatten. Und deshalb haben wir dann auch den Boden verloren gegenüber denen, die da zugespitzt haben und gesagt haben „Das ist alles ein Witz, das ist alles eine Sauerei“. Und da vielleicht – Entschuldigung, wenn ich da lang bin, aber …

HS: Nein nein, das ist hoch interessant jetzt.

CK: Anhand eines Beispiels, das hat mich wirklich persönlich so beeindruckt. Wir haben in Österreich ja rund 17.000, 18.000 Tschetschenen. Und wir wissen, dass es da eine kleine Gruppe gibt von Leuten, die wirklich schwer integrierbar sind, die wahrscheinlich verloren sind, muss man leider sagen, die nicht mehr in einen normalen Arbeitsprozess oder wirtschaftlichen Prozess hineinpassen. So, [das] ist ein Problem. Ich war selbst mit der Polizei in [Wien] Favoriten unterwegs und habe sie mir angeschaut, diese Hotspots, und [das war] wirklich nicht lustig. Also da beneidest du niemanden, der bei der Polizei ist, der diese Abenddienste ausgefasst hat, kein Honiglecken, so. Und dann habe ich mir aber eingeladen, ins Bundeskanzleramt, eine Gruppe junger Leute, da waren Tschetschenen dabei, und habe mit denen diskutiert, was sie tun. Und da war ein Bursch, [das] werde ich nie vergessen, der hat mir dann erzählt, er macht jetzt gerade seine HTL-Matura, die eine Schwester, die ist ein bisschen älter, macht die Externisten-Matura, die dritte arbeitet in einem Schuhgeschäft. Brave Kinder, die etwas lernen wollen, die eine Perspektive im Leben sehen, wo jeder, der solche Kinder hat, musst du sagen „[Du] kannst Glück haben, [du] hast etwas richtig gemacht“. Und das war der Grund, warum wir uns, oder ich im Besonderen, mich nie hingestellt habe und gesagt habe „Die Tschetschenen“, oder „Die Afghanen“, oder „Die Syrer“, oder „Die Flüchtlinge“ – weil das einfach nicht stimmt, weil das am Ende Menschen sind und individuelle Schicksale. Und sobald du anfängst, zu pauschalisieren, gegen einzelne Gruppen, verbreitest du Hass und Spaltung in unserer Gesellschaft. Und mit diesem ethischen Grundverständnis bist du aber in einer Diskussion, die im Boulevard treibt, Zweiter. Und dann haben wir den Fehler gemacht – das darf man auch nicht übersehen, also man braucht nicht nur auf die anderen sich ausreden – den Fehler gemacht, unseren Standpunkt nicht zu erklären. Auch ich, weil wir Angst gehabt haben, unter dem Eindruck dieses Gewitters da zurückgewichen zu sein, dass wir uns nicht hingestellt haben und gesagt haben „Nein, wir glauben, das ist nicht so“, [und] dann immer wieder kleine Maßnahmen da gesetzt haben, das ist für mich eine persönliche Geschichte, wo ich bis heute unglücklich bin darüber – wir haben 13.000 Leute aus Italien und Griechenland genommen gehabt, die dann weitergereist sind und [nicht] in Österreich geblieben sind. Und da ging es eines Tages um die Frage, ob wir noch einmal 50 Jugendliche aufnehmen, aus Italien. Und ich weiß noch gut, weil die Geschichte so war – ich habe leider kein Briefing gehabt, das war Europäischer Rat – der Reporter fragt mich live in einem ZIB 2-Interview, „Es gibt diesen Streit Doskozil-Sobotka, ob man die jetzt nehmen soll oder nicht, Doskozil sagt, ‚Das kommt überhaupt nicht in Frage, wir haben eh schon so viele’, der Sobotka sagt, wir sollen noch mehr nehmen“ – und in einer solchen Situation reflektierst du nicht, sondern stellst dich auf die Seite deines Parteifreundes. Und in diesem Fehler verharrend haben wir dann gesagt „Nein, wir haben eh schon so viele, diese 50 nehmen wir nicht zusätzlich“. Und ich muss gestehen, das war, was Ausdruck dieser ganzen Geschichte war, dass wir da zurückgewichen sind und eigentlich unseren Standpunkt nicht argumentiert haben. Und dafür geniere ich mich ehrlich gesagt bis heute, bei dieser Entscheidung so agiert zu haben.

HS: Ja, das ist – ich glaube dir das auf’s Wort, und sage dir zugleich dazu, das ist aber auch schwierig, dann in jeder Situation immer zu 100% präsent zu sein.

CK: Ja, das heißt, weißt du, du hast die Zahlen – es hat schon eine Logik gehabt. Es hat schon eine Logik gehabt, aber es war eine Logik …

HS: Nur diese 50 hätten das Kraut nicht fett gemacht, natürlich, nur es …

CK: Eben, und wir hätten unsere Verpflichtungen wahrgenommen und hätten uns den internen Streit gespart. Also das war da – aber da haben wir halt versucht, auch zu zeigen, schau her, wir sind auch harte Knochen und so – anstatt irgendwie zu argumentieren, worum es wirklich geht.

HS: Also ich bin nie so einer, so einem Druck ausgesetzt gewesen, wie es ein Bundeskanzler ist, aber ich muss auch sagen, ich – hin und wieder haust du daneben, ganz einfach.

CK: Ja, das kann ich bestätigen.

HS: Was retrospektiv dann ärgerlich ist, und du denkst „Hätte ich mehr aufgepasst“, aber – gut, aber es spricht für dich, wenn du das sagst.

CK: Ja, also es hat ja keinen Sinn, immer die anderen zu beschuldigen – den Kurz, die FPÖ, die Zeitungen – wir haben da selbst schon auch einen Beitrag geleistet.

HS: Ja, natürlich ist auch die Sozialdemokratie da Schritt für Schritt zurückgewichen, das ist …

CK: Wobei, weißt du, was auch interessant ist – entschuldige, wenn ich dich da unterbreche. Ich habe ja oft mit Angela Merkel über die Causa diskutiert, und ich glaube, die hat wirklich einen persönlichen Antrieb. Aber spätestens nach Köln haben die Deutschen eine Migrations- und Flüchtlingspolitik betrieben, die war um einiges härter als vielleicht sogar unsere. Die haben reihenweise die Leute zurückgeschickt und aus Österreich nicht hinübergelassen. Und trotzdem hat die Merkel bis zum heutigen Tag dieses Etikett „Refugees welcome“, weil sich das so eingebrannt hat. Die Realpolitik, die die gemacht hat, war eine ganz eine andere. Also da geht es so um Emotionen und Gefühle in dieser Frage...

HS: Und natürlich den berühmten Satz „Wir schaffen das“ – wobei ich den ganz anders interpretiere, nämlich aus dem Augenblick heraus, damals, vielleicht auch mit einer Fehleinschätzung, wie viele wirklich kommen.

CK: Das glaube ich auch, und die hat vielleicht den Bahnhof und München oder sonst was in Erinnerung gehabt, wo sie gesagt hat „Machen wir schon irgendwie“ …

HS: Die war in Wien, wenn ich es richtig im Kopf habe, wie Parndorf passiert ist. An dem Tag war sie in Wien, also wie die 71 Toten gefunden wurden – und ich glaube, dass das auch auf eine sehr erfahrene Politikerin den Eindruck nicht, also verfehlt hat.

CK: Na sicher. Aber weißt du, was für mich auch eine spannende Geschichte war? Die Art und Weise, wie wir die ganze Geschichte rezipiert haben, auch die Bilder, die da produziert worden sind in den, vor allem in den Boulevard-Medien – so Massen an der Grenze, Ströme, tausende Leute irgendwo am Boden hockend und so weiter. Und du hast irgendwie, aus Menschen hast du eine Herde quasi da gemacht, in der Abbildung, und eine Bedrohung, eine Welle, eine Flut, die über uns hereinbricht, das waren ja die Darstellungen. Und ich habe eines Tages in der Galerie ‚WestLicht’ so eine ‚Foto des Jahres’-Ausstellung eröffnet – ich weiß gar nicht, wann das gewesen ist, aber das muss – ich glaube, es war möglicherweise schon nach der Nationalratswahl. Und dort hast du dann die Bilder von den einzelnen Menschen, in Schwimmwesten, oder der dann irgendwo im Sand liegt – und wenn du dann wieder das zurückführst auf die Individuen, das ist – da machen diese Abbildungen einen riesigen Unterschied in der Wahrnehmung. Weil mit den Leuten, die da betroffen sind, hat jeder Mitleid, außer er ist kein Mensch. Aber wenn du sozusagen die entmenschlichst, denen die Individualität nimmst, dann ist das der Vorbote für das, was gesellschaftlich da passiert ist. Weil, das ist – wer wendet sich von einem kleinen Kind ab, egal welche Hautfarbe es hat.

HS: Naja, ich habe das ja auch hautnah erlebt gerade in den ersten Wochen der Krise, wo ja sehr viele Familien mit sehr kleinen Kindern gekommen sind, und da – ich glaube auch, dass deswegen auch die öffentliche Anteilnahme sehr stark war, weil die haben die Kinder gesehen. Auch die Helfer, auch die Einsatzkräfte. Und da hat es so – wir haben ja damals die Tiefgarage beim Bahnhof als Notunterkunft ‚adaptiert’, ich sage es mal so, und mit Hilfe von Kinderfreunden, Pfadfindern, Verein ‚Spektrum’, Spielecken gemacht, Kinderecken. Und das war ganz interessant, die Kinder, die also wirklich durch eine lange Flucht traumatisiert waren – kaum haben sie sich dort niedergelassen, und haben unter Anleitung zu spielen begonnen, war alles abgefallen. Und das waren auf einmal wieder Kinder.

CK: Das muss fantastisch gewesen sein, oder, das zu beobachten. Aber es waren schon viele großartige Momente dabei.

HS: Ja – Bilder, du hast Recht, umgekehrt die Bilder, so, Spielfeld – da haben die Leute Angst bekommen.

CK: Absolut.

HS: Und zwar auch rational, aufgeklärt denkende Menschen aus meinem unmittelbaren Bekanntenkreis haben gesagt „Wir haben Angst“. Es... ja.

CK: Nein, nein, das war – also, ich mache mir auch nicht die, ich sage nicht, dass die Leute da irren, das ist schon klar warum das passiert – also es war ja nicht an den Haaren herbeigezogen, es ist eine Ausnahmesituation, es ist irritierend, wir wissen, dass alles, was anders ist, grundsätzlich einmal Vorbehalte bei Menschen – das ist ein natürlicher Reflex – auslöst.

HS: Darf ich dich noch fragen – wie hast du, vielleicht auch dann später hin, wo du dann Bundeskanzler warst, die Arbeit jetzt des ‚offiziellen Österreich’ – der Einsatzkräfte, Bundesheer, Polizei etc. – wahrgenommen? Wie ist, wie ist das, wie sind die Einsatzkräfte damit umgegangen, die Hilfsorganisationen, und was ist deine, was ist dein Resümee?

CK: Ja, also ich muss sagen, du hast gesehen, dass die alle wirklich exzellent geführt sind und wirklich super strukturierte Organisationen sind – das gilt besonders für die Freiwilligen-Organisationen, das gilt aber natürlich auch für die Polizei, also die haben ja auch einen ganz schwierigen Job gehabt und haben das auch glaube ich, wirklich mit Bravour und mit Augenmaß damals alle auch gelöst – und ich habe natürlich viele der Probleme gesehen, die es natürlich auch gegeben hat, [das] brauchen wir nicht schön reden. Also das war schon – ich finde ehrlich, es war eine große Zeit, es war eine Sternstunde Österreichs, dass man gesehen hat, wenn man da zusammensteht, funktioniert es – was im Übrigen aber auch immer wieder bei Naturkatastrophen zu beobachten ist, wo die teils Überschwemmungen ausgesetzt sind, oder auch das Gasteiner Tal einmal im Sommer 2017, wenn es dann mit, von der Bergrettung abwärts, Freiwillige Feuerwehr – da siehst du, wie das Land eigentlich funktioniert und was die Stärke ausmacht. Das ist dann oft gar nicht Bundespolitik, sondern das, was durch die vielen, vielen Stunden im Kleinen passiert. Wo du in Wahrheit heute jedem dankbar sein musst, dass er das macht, weil wir leben in einer Zeit, wo halt viele den individuellen Vorteil im Auge haben. Und das sind aber Leute, die fragen nie vorher, ob ihnen das hilft oder nicht, sondern die sind halt da.

HS: Du hast vorhin Angela Merkel erwähnt und das Zusammenspielen, also, besonders jetzt mit Deutschland, aber natürlich dann später auch mit den anderen EU-Ländern, nämlich wie die dann alle da waren. Und ich glaube, durch Österreich allein sind etwa 900.000 [Geflüchtete gereist], wenn ich das richtig im Kopf habe, und davon, glaube ich, 90.000 geblieben. Wie war, aus deiner Erinnerung, das Resümee da?

CK: Also ich habe das damals, in meiner Zeit als Bahn-Chef, die Zusammenarbeit mit den deutschen Kollegen war exzellent, die haben sich auch bemüht. Weißt du, die Bahn ist eine sehr hierarchisch strukturierte Organisation, die funktioniert dann einfach, also, das muss man sagen. Ich habe dann später aber erlebt, dass es eigentlich zu einem Thema geworden ist, wo jeder gewusst hat, es braucht Lösungen – es aber bis zum heutigen Tag nur sehr begrenzte Fortschritte gegeben hat. Das siehst du auch, was unsere außenpolitische Rolle in Europa betrifft, also wir nützen unsere Möglichkeiten nicht, bis zum heutigen Tag nicht. Ich finde, zum Beispiel eine der bemerkenswertesten Entwicklungen, um das auf ein Beispiel zu bringen: Wenn du in Palästina unterwegs bist, zum Beispiel, oder in dieser Situation Israel-Palästina – wo spielt Europa da eine Rolle? Ich nehme sie nicht wahr. Der Letzte, der dort noch da ist, ist der Tony Blair, aber das stammt auch aus einer anderen Zeit, der da noch ein bisschen Beratungsaktivitäten hat. Aber, wenn du dir dann anschaust, wer sind die Donatoren, wer sind die, die am meisten Geld investieren in Palästina, dann ist das nicht Amerika, oder Qatar, oder die Türken, dann ist das Europa. Und das erleben wir immer wieder, dass wir es nicht schaffen, die Stärke, die wir eigentlich hätten, zu bündeln. Und im Europäischen Rat war das so eine Art ‚Reise nach Jerusalem’ – es war immer ein Sessel zu wenig, alle sind rundherum gelaufen solange die Musik gespielt hat, und jeder hat versucht, dass er nicht übrig bleibt. Und ich meine, man kann es den Italienern nicht verdenken, dass die sagen, ok – ich finde das enttäuschend, ich finde [es] auch schwach, dass wir es nicht schaffen, einen gemeinsamen Verteilungsschlüssel [zu finden], ich finde es schwach, dass wir [es] nicht schaffen, gemeinsame Asylregeln [zu verabschieden] – ich meine, immerhin haben wir [es] ja jetzt geschafft, eine gemeinsame Erfassung und Datenbank aufzubauen, so dass – ich meine, das stimmt ja nicht, dass die Leute durchgewinkt werden, die werden mittlerweile alle erfasst und ihre Reisewege sind bekannt. Aber das ist bis zum heutigen Tag eigentlich – das Glück, das wir im Moment haben, ist, dass die Zahl zurückgegangen ist. [Es] gibt keine Garantie, dass das so bleibt, und dann ist die Frage, wie sind wir vorbereitet.

HS: Das war eigentlich meine Schlussfrage jetzt an dich: Rechnest du damit, dass sich Ähnliches wiederholen kann? Nicht gleich, [das] sage ich jetzt gleich dazu, ausdrücklich, weil natürlich dazwischen erstens Zeit vergangen ist, zweitens Zäune hochgezogen wurden, die zumindest also eine erste Barriere darstellen, aber es hat sich ja nicht grundsätzlich die Situation verändert, nämlich in den Herkunftsländern.

CK: Nein, also ich bin der Meinung, dass wir das ganz ernst nehmen müssen – und [ich] darf das nur an einem Beispiel sagen: Schau dir Ägypten an, 90 Millionen Leute. Da gibt es mit dem as-Sisi [Abdel Fatah El-Sisi, Anm.] einen Präsidenten, der das – man kann es wahrscheinlich so bezeichnen – autokratisch führt. So – was mir oft durch den Kopf gegangen ist, ist, was ist eigentlich unser Maßstab, mit dem wir dort messen? Und der Obama hat ja damals in der Idee [der] Demokratisierung, und das westliche Offenheitsmodell ist jetzt auch im Arabischen Frühling, und Ägypten und so – [das] hat zu einem Desaster geführt. Und, was meine Einschätzung ist, wenn wir nicht eine feste Rolle entwickeln, oder [eine] feste Position entwickeln, wo wir sagen „Ok, das und jenes sind unsere Vorstellungen, wir akzeptieren auch, dass bestimmte demokratische Spielregeln nicht überall leicht durchsetzbar sind“ – dann leisten wir möglicherweise einen Vorschub, dass solche Entwicklungen wiederkommen. Und Europa braucht Bündnispartner in Afrika, und die werden nicht alle die Verfechter des westlich-liberalen Demokratiemodells sein können. Und ich fürchte, um diese Lektion kommt man nicht herum. Man sieht das ja auch, in Libyen, was da passiert – [man] muss schauen, wie das jetzt in Tunesien weitergeht, dort war ja eigentlich das einzige Land, wo das einigermaßen funktioniert hat – aber [es gibt] auch keine Garantie, dass das [nicht] von heute auf morgen kippt.

HS: Nein, mit der Wirtschaftslage dort, das...

CK: Ja. Also ich glaube, wir sollten uns nicht – und gerade dieses Libyen-Beispiel, das wir diskutiert haben, zeigt eigentlich, dass da aller Grund zur Besorgnis eigentlich nach wie vor da sein sollte. [Man] braucht die Leute nicht irritieren, weil man kann es auch lösen. Aber dass die Europäische Union so gar keine Rolle spielt...

HS: Ja, ich kenne das Land, also von vor der – also noch zu Gaddafis Zeiten. Damals war ja auch schon spürbar, dass es also nur die wirklich harte Hand ist, die das Land zusammenhält, was man jetzt eben sieht. Und, wie du sagst, wo die alten Kolonial-Interessen mit hineinpfuschen. Das ist ja unglaublich.

CK: Da kommen Wirtschaftsinteressen dazu, dann, der ganze Raum ist komplex, wo die ganzen Strömungen innerhalb der arabischen Welt ihre Rolle spielen wollen. Ich meine, schau dir das an, was im Jemen passiert. Ich vermag mir da kein Urteil zu bilden, wer da im Recht ist und wer nicht, aber die Auswirkungen sind ein Desaster, da verhungern reihenweise Leute, und wir können froh sein, dass, ja, dass das nicht weiter eskaliert.

HS: Und es ist erstaunlich, weil du vorhin [den] Oman erwähnt hast, das sind Nachbarländer.

CK: Jaja. Und im Vergleich [ist das] ein Hort der Stabilität.

HS: Ja, klar, auch hart geführt, sicherlich.

CK: Ja.

HS: Christian, recht herzlichen Dank.

CK: Danke für das Gespräch, Heinz, danke.

HS: Und dass du auch so ein bisschen – nicht nur ein bisschen, sondern auch sehr deutliche Einschätzungen und Worte gefunden hast.

 

Transkript erstellt von Katharina Steinhauser