Jörg Winter

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Jörg Winter


Interview mit Mag. Jörg Winter 
im Rahmen des Buchprojekts „Die große Flucht“

ORF-Korrespondent für Türkei und Iran

Datum: 13. August 2019
Ort: Stadtarchiv Salzburg
Dauer: Track 1: 00h 17min 05sec; Track 2: 00h 11min 29sec
Interviewer: Dr. Heinz Schaden

HS = Heinz Schaden (Interviewer)
JW = Jörg Winter

 

 

TRANSKRIPT DES INTERVIEWS
[Ergänzungen in eckigen Klammern wurden bei der Transkription vorgenommen und dienen dem besseren Verständnis.]


HS: Was ist Ihr Eindruck, was waren Ihre Erlebnisse – warum ist es 2015 auf einmal zu dieser ‚Völkerwanderung’ gekommen?

JW: Ja, ich glaube die Ursache war natürlich der Bürgerkrieg in Syrien, der im Laufe von 2011 begonnen hat, und eigentlich war dann 2015 eine Situation erreicht, glaube ich, wo die Leute, die schon zuvor in die Türkei geflohen sind, weil sie zu Hause verfolgt wurden, weil die Bomben gefallen sind, weil sie einfach keine Zukunft mehr hatten und weil es einfach brandgefährlich war – die, die dann in die Türkei gekommen sind, dann auch verstanden haben, dass sie hier, also dass sie sozusagen in ihrem eigenen Land, dass es sehr lange dauern wird, bis sie zurückkehren. Das heißt, diese ‚Flüchtlingswelle’, die wir dann gesehen haben Richtung Europa, also vor allem von der türkischen Küste durch die Ägäis auf die griechischen Inseln, das waren einerseits Leute, die bereits in der Türkei waren, die gewusst haben, ich kann in absehbarer Zeit nicht mehr zurückgehen, ich habe in meinem Land keine Zukunft, deshalb versuche ich es jetzt; und der zweite Grund [waren] sicher vermehrte Kampfhandlungen in unterschiedlichen Regionen in Syrien, wo die Leute einfach in großen Mengen sozusagen gehen haben müssen und viele dann auch sehr schnell durch die Türkei durch sind, zur Küste hin gegangen sind und dann nach Europa gegangen sind, also der ursprüngliche, ursächliche Zusammenhang, klar der syrische Bürgerkrieg.

HS: Hat es in Ihren Augen eine Rolle gespielt, was der Kanzlerin Merkel oft vorgeworfen wurde, das berühmte „Wir schaffen das“, dass das ein Signal war? Ich habe es nämlich anders verstanden, deswegen frage ich nach.

JW: Also, ich würde jetzt – also ich weiß es ist eine ziemliche Kontroverse eigentlich dann in Europa gewesen, aber ich glaube, man kann jetzt auch nicht sagen, dass es keine Rolle gespielt hat. Weil die Leute, die ich getroffen habe – viele von den Flüchtlingen in Istanbul, an der Ägäisküste, vor allem sozusagen besser gebildete syrische Familien, aber auch andere, die waren natürlich informiert, dass wir hier in Österreich und vor allem natürlich in Deutschland mit Angela Merkel zumindest zu diesem Zeitpunkt schon gesagt haben „Wir wollen euch helfen. Wenn ihr zu uns kommt, dann werden wir euch zumindest vorübergehend aufnehmen.“ Also ich kann das jetzt wissenschaftlich nicht genau in Pfählen einschlagen, aber ich denke schon, dass es eine gewisse Signalwirkung hatte – aber es ist glaube ich völlig falsch, zu sagen, die Politik Angela Merkels hat diese Flüchtlingswelle ausgelöst, [das] wäre, glaube ich, völlig naiv zu sagen, sondern man muss sich ja die Situation vor Ort vorstellen – da ist ein Land niedergebombt worden, die Leute haben gehen müssen. Viele sind in der Türkei geblieben, und ein – übrigens auch, damit wir das nie vergessen – ein kleinerer, wesentlich kleinerer Teil als der, der in der Türkei geblieben ist, hat versucht, nach Europa zu kommen.

HS: Wie waren Ihre persönlichen Erlebnisse? Sie waren ja als Korrespondent des ORF natürlich in Istanbul, aber auch am Strand offensichtlich, in Richtung Lesbos. Erzählen Sie mir da ein bisschen.

JW: Ja, also wir waren eigentlich recht viel unterwegs. Wir haben uns diese ganze Fluchtbewegung angeschaut von der syrisch-türkischen Grenze, wo es für uns natürlich unmöglich war, auf die syrische Seite hinüber zu gehen, aber wir haben gesehen, wie die Leute irgendwie hereinkommen. In den Busbahnhöfen, in Gaziantep, in Kilis, allen möglichen türkischen Städten in die Busse gestiegen sind und in die Westtürkei gefahren sind, vor allem nach Izmir und nach Istanbul. In Istanbul konnte man im Sommer 2015 auf einem Platz in ..., das ist ein sehr ethnisches Viertel, den Schleppern zusehen, wie sie den Leuten gesagt haben, also „Da, zu diesem Zeitpunkt kommst du dort hin, da steht der Bus“ – man konnte sogar Geldtransaktionen sehen, in diesem Stadtviertel gab es überall in diesen Geschäften Schwimmwesten, die man dort kaufen konnte, das heißt, die Leute sind mit Sack und Pack mit den Schwimmwesten von Schlepperorganisationen zu den Küsten gebracht worden, und eines davon, das war eigentlich der wichtigste Strandabschnitt war die Bucht von Ayvalık, das ist genau gegenüber von Lesbos. Und da haben wir eigentlich im Oktober 2015, da waren wir einige Tage dort, und da gab es Tage, wo bis zu 8000 Leute von diesen Stränden diese Überfahrt nach Lesbos unternommen haben. Wir haben Boote gezählt, ich habe einmal gezählt in einer Viertelstunde, wo wir, ich glaube sieben große Schlauchboote, ich würde schätzen 50 Leute in jedem drinnen, gesehen haben, die versucht haben, abzulegen. Wir sind dann näher hin – die sind immer im Kreis [gefahren], sie haben es nicht aus dieser Bucht hinaus geschafft. Die sind immer im Kreis gefahren, und wir haben uns überlegt warum, wieso funktioniert das so, wieso kommen die nicht raus. Man hat Lesbos, das war gar nicht weit, also man hat das gesehen, gegenüber – ich kann es nicht genau sagen, zehn, zwölf, dreizehn Kilometer oder so schätze ich. Und dann sind wir näher hin, und da haben wir gesehen, diese Boote waren völlig überfüllt, man hat die hineingesetzt, dann hat man einen an den Außenborder [Motor] gesetzt und sie weggestupst – und die Boote waren so überladen, dass man sie eigentlich gar nicht manövrieren konnte. Auch die Schlepper dort, das waren meistens Türken oder Syrer, die uns dann natürlich auch bedroht haben – die haben gesagt „Wenn ihr jetzt nicht sofort verschwindet, dann werden wir euch fertig machen“, also wir konnten auf dem Strand nur kurz sein, aber es war einfach ein – ja, also eine Erfahrung die einen wirklich [sucht nach Worten] wenn man nur mit Gänsehaut dort steht und eigentlich gar nicht glauben kann, was man da sieht. Also ich habe einiges schon gesehen in diesen 20 Jahren im Ausland für den ORF, aber das war eigentlich eine der intensivsten Erfahrungen.

HS: Und das war wahrscheinlich auch die Zeit, wo noch relativ viele Familien unterwegs waren.
 

JW: Da waren auch viele Familien unterwegs. Der Bürgermeister von Ayvalık, mit dem haben wir auch viel Kontakt gehabt, die haben ein bisschen geholfen, dass sie zum Beispiel auch den Leuten erzähl[t]en, Familien mit kleinen Kindern, „Geht nicht auf die Boote, weil das ist wahnsinnig gefährlich“. Wir haben Leute gesehen, da gab es Familien, da hatten zwei Kinder eine Schwimmweste, die Mutter und der Vater nicht, die zwei Söhne auch nicht – also die Leute wollten nur mehr rauf auf die Boote und haben gar nicht wirklich verstanden, dass das eigentlich ein Meer ist, dass das gefährlich ist. Man hat viele Familien auch gesehen, ja. Die auch teilweise ausgebeutet wurden, also eine afghanische Familie, die wir auch am Strand von Ayvalık, also eigentlich zehn Kilometer weiter hinten, gesehen haben, die konnten Englisch, mit denen haben wir dann ein bisschen geredet. Das war eine Familie, die wollten aufs Boot – sie hatten dann letzten Endes nicht genug Geld, man hat ihnen das Geld abgenommen, dann hat man sie mit einem Minibus zehn Kilometer von der Küste weggefahren, hat sie irgendwo einfach ins Gras gesetzt und ist weggefahren. Die hatten nichts. Die haben dann versucht über Handy mit dem Bruder, glaube ich, zu Hause zu schauen, ob man nicht auf eine türkische Bank Geld überweisen könnte, dass sie es noch einmal probieren – also es waren unglaubliche Szenen, und auf türkischer Seite auch wirklich sehr viele gute Leute wie der Bürgermeister dieser Stadt, der wirklich versucht hat, den Leuten irgendwie zu helfen, aber es war halt sehr schwierig. Die türkische Küstenwache hat – die Zahlen waren glaube ich ungefähr 850.000 sind 2015 über den Seeweg nach Griechenland, die meisten nach Lesbos – und ich glaube die türkische Küstenwache hat allein 90.000 gerettet, also es war einfach horrend, es war eine unglaubliche Zeit eigentlich.

HS: Also aus richtiger Seenot gerettet.

JW: Ja, aus Seenot.

HS: Wo die Boote schon am Untergehen waren, oder untergegangen waren.

JW: Ja. Und natürlich dann mit dem Flüchtlingsdeal – es hat sich dann auch ein bisschen geändert, wie der richtig ins Laufen gekommen ist, hat man dann natürlich schon auch gesehen, dass die türkische Küstenwache viel mehr Anstrengungen unternimmt, auch die Leute, die sie sozusagen retten, wieder nach Hause zu bringen. Also damals, 2015, wo dieser Deal noch nicht in Kraft war, hat man schon auch Boote der Küstenwache gesehen, die nichts unternommen haben, also da sind die Schlauchboote einfach nach Griechenland hinüber gefahren. Später war es dann ein bisschen anders.

HS: Also nach dem Abkommen EU-Türkei.

JW: Genau. Nach diesem gemeinsamen Abkommen, von dem ja beide irgendwie profitiert haben, bzw. auch glaubten damals, dass sie profitieren werden, hat sich die Situation und dieses, wenn man so will ‚Management’ dieses Flusses an Menschen eigentlich ein bisschen verändert.

HS: Sie haben erwähnt, Sie haben also das Geschehen an den Busstationen, oder an der Haupt-Busstation in Istanbul auch verfolgt.

JW: Ja. Das war die Busstation von [?], das ist eigentlich, von dort gehen auch die Busse Richtung Edirne, also zur Grenze und damit auch zur Außengrenze der Europäischen Union, wo ich sehr gut informierte Leute getroffen habe. Das war, glaube ich, diese Geschichte, wo Tausende dort waren, die dann auch über die türkischen Autobahnen Richtung Edirne und zur Grenze hin marschiert sind, das war wohl September 2015, denke ich, und da gab es schon Probleme in Ungarn. Also da gab es dort an der Grenze schon Probleme. Die Leute waren sehr informiert, sie hatten Smartphones in der Hand, und sie haben dann geschaut, wo sie denn da noch, welche alternativen Routen es denn gäbe, damit sie nicht über Ungarn Richtung Österreich und Deutschland weiter müssen. Also sehr informierte Leute, und auf der anderen Seite auch – also ich erinnere mich, im August 2015 in Bodrum, sehr naive und uninformierte Leute, die wirklich auch geglaubt hatten, es wird ihnen nicht nur geholfen in Europa, sondern die auch geglaubt hatten, sie werden es dort sehr schnell auch sehr weit schaffen und die eigentlich nicht verstanden hatten, dass sie von einer sehr schlimmen Situation in eine zumindest schwierige Situation kommen werden.

HS: Ja, die Leute haben natürlich alle gehofft, oder gesehen, welcher relative Wohlstand hier herrscht, und, ich meine, die Hoffnung stirbt zuletzt dann, in so einem Fall.

JW: Natürlich. Genau. Und das haben sie dann auch, man konnte sich auch alles anschauen, es wurden auch die Reden, ich habe auch gesehen, Reden von Angela Merkel zum Beispiel, die wurden auch aus arabischen Sendern mit arabischen Untertiteln – also die haben sich das angesehen. Man konnte dann einfach Al Jazeera [arab. Nachrichtensender, Anm.] schauen auf der Busstation, den arabischen Service von Al Jazeera, und sie konnten verstehen, was Angela Merkel einfach sagt. Und das war natürlich schon auch mit ein Ansporn, aber bei Weitem nicht der Grund für diese Fluchtbewegung, das halte ich für völlig falsch, aber mit ein Ansporn, zumindest zu sagen, es könnte sich auszahlen für uns, wenn wir doch diese gefährliche Reise unternehmen.

HS: Und der Umweg über das Mittelmeer, das war wahrscheinlich eben weil Ungarn schon ein bisschen schwierig war, die haben ja schon ziemlich früh mit einem Grenzzaun begonnen – ich glaube schon im Frühjahr 2015, wenn nicht noch vorher – dann sind die Leute wahrscheinlich, in der Hoffnung, sie kommen übers Mittelmeer und dann wieder vielleicht die Balkanroute und über Slowenien und so weiter und so fort...

JW: Mit Alternativrouten, also zum Beispiel die zweite große Fluchtroute, über die wir ja in diesen Tagen – oder seit gut zwei Jahren, aber eigentlich schon ein bisschen länger, aber nach dem Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei hat sich die Fluchtroute ja eigentlich ziemlich verlagert – in Wahrheit hat sie sich natürlich nicht verlagert. Sondern das sind ja natürlich völlig andere Menschen, die jetzt über Libyen und Nordafrika kommen, sondern das sind im Wesentlichen ja Leute die aus Afrika kommen. Damals war es durch diesen Höhepunkt des syrischen Bürgerkrieges, natürlich waren es vor allem Syrer, aber auch Afghanen. Wir haben in der Türkei eigentlich alle möglichen Menschen aus allen möglichen Ländern gesehen, bis nach Bangladesch – alle möglichen, die eben über diese Route gekommen sind, und die eben, wie Sie gesagt haben, immer wieder dann, je nachdem wie die politische Lage zum Beispiel in Ungarn war, versucht haben, andere, am Balkan irgendwie anders vorbei zu kommen. Die erste Geschichte, fällt mir auch noch ein, die wir gemacht haben, war im, wahrscheinlich, März 2015, da war von der großen Flucht über die Ägäis noch gar keine große Rede, sondern da wurden große Frachtschiffe gechartert, in Mersin, das ist eigentlich – von dort ist es nach Latakia in Syrien ein kleiner Sprung übers Meer, also es ist nicht weit, oder auch über den Landweg – die Leute sind von dort in Frachtschiffen nach Italien gefahren. Und erst dann, später – das war sozusagen ein bisschen auch die Vorahnung, denn erst später ist die große Welle dann über die Ägäis gekommen.

HS: Naja, das hat man hier gar nicht mitbekommen. Ist Ihnen aufgefallen – was hier immer behauptet wurde, dass in Istanbul ein reger Handel mit Pässen betrieben wurde? Nämlich mit syrischen Pässen für Nicht-Syrer – zum Beispiel Afghanen oder Iraker oder wer auch immer.

JW: Es ist uns aufgefallen, wir haben einmal auch eine Geschichte darüber gemacht – es ist auch von einigen türkischen Journalisten recht viel recherchiert worden und ja, ich denke schon, dass es so etwas gegeben hat. In so Chaos-Situationen, eigentlich, wo es keine Regeln gibt, gibt es immer – natürlich gab es Passfälschungen und all diese Dinge, aber es wird natürlich, ich denke nicht, dass es besonders schwierig war für Leute in Mitteleuropa, für die Behörden, herauszufinden, ob – ein Afghane kann im Normalfall nicht Arabisch, also es geht relativ schnell, das herauszufinden. Aber das hat es gegeben, ich habe das gehört, ja – und türkische Journalisten haben gesagt ja, in welchem Umfang kann ich nicht sagen.

HS: Naja, uns haben eh hier die Dolmetscher gesagt „Das sind jetzt keine Syrer“.

JW: Man hört das auch am arabischen Akzent, also das ist nicht so schwierig herauszufinden.

HS: Ja, reden wir über die Kurden. Die Kurden haben ja eine besondere historische Situation, jetzt brauchen wir nicht weiter darauf eingehen, sind über vier Länder verteilt, sind natürlich mitten in diesen syrischen Bürgerkrieg hineingekommen, haben dann ja eigentlich militärische Erfolge erzielt, auch im Sinne des Westens, nämlich die Niederlage des IS, oder Kobane als wichtigste Stadt jetzt einfach einmal, direkt an der türkischen Grenze – wie haben Sie das erlebt, oder wie sehen Sie diese ganze Situation? Dann vielleicht auch noch das Spezialkapitel Türken und Kurden.

JW: Das war natürlich ganz interessant, weil, wie Sie eh gesagt haben, die türkisch-kurdische Geschichte, auch im Osmanischen Reich, das reicht wirklich weit zurück, das ist seit Langem ein großes Problem, [das] wissen wir – 2015 war die Situation eigentlich so, dass die kurdischen Milizen im Norden Syriens nicht unbedingt die großen Feinde des türkischen Staates oder der türkischen Regierung waren. Sondern erst ab dem Zeitpunkt, wo der IS aus immer mehr Gebieten vertrieben wurde und die Kurden im Norden Syriens, zumindest östlich des Euphrats, in diesen weiten Gebieten bis zur irakischen Grenze, das ist ein sehr großes Gebiet eigentlich, so etwas wie eine autonome Verwaltung errichtet haben – erst dann hat die türkische Regierung eigentlich damit begonnen, die syrischen Kurden dort als Terroristen zu bezeichnen und als Ableger der PKK, dieser Vorwurf stimmt, natürlich ist das eine Schwesternorganisation, die YPG-Milizen sind eine Schwesternorganisation der PKK, die auch von der Europäischen Union und von der Türkei als Terrororganisation bezeichnet wird – aber sie waren sehr verlässliche und wichtige Partner für den Westen, vor allem für die USA, in der Bekämpfung des Islamischen Staates, also wir können davon ausgehen, dass ohne die kurdischen Milizen dieses Kalifat des IS nicht so schnell besiegt worden wäre, und wir sollten auch nicht vergessen, dass es dort natürlich viele Gefängnisse gibt, von den Kurden jetzt betrieben, wo IS-Kämpfer, viele mit natürlich einer sehr gewalttätigen – und viele von denen sind Mörder, und sind Völkerverbrecher, die dort festgehalten werden. Also das ist eine ziemlich schwierige Situation –

HS: Ist das in dieser autonomen Region in Nordsyrien?

JW: Ja, wo die Gefängnisse sind, das ist nicht hundertprozentig klar – also es ist jetzt, ja, es ist in dieser autonomen Region, aber sozusagen wie weit im Landesinneren, das lässt sich nicht immer genau sagen, die Türkei und die USA haben sich jetzt ausgemacht, dass sie dort eine Sicherheitszone errichten wollen, eine Pufferzone, die Türkei will einfach, dass die kurdischen Milizen aus dieser Region zurückgedrängt werden. Und sie haben es teilweise auch gemacht, sozusagen westlich des Euphrats, in Afrin zum Beispiel, wo man mit teilweise stark islamistischen, aber Türkei-freundlichen Milizen die eher säkularen kurdischen Milizen vertrieben hat, wo man zusammenarbeitet mit äußerst, äußerst problematischen, weil teilweise streng islamistischen Milizen, was zu viel und berechtigter Kritik geführt hat.

HS: Sind das sunnitische Milizen in erster Linie?

JW: Das sind sunnitische Milizen, das sind Turkmenen, die es dort als Minderheit gibt, das sind aber natürlich auch vor allem arabische und turkmenische Milizen, und eben ganz wenige, praktisch keine Kurden.

HS: Zurück zu den Kurden – es ist ja hier so besonders beachtet worden, dass auf der kurdischen Seite sehr viele Frauen aktiv gekämpft haben. Hat das etwas mit der kurdischen Gesellschaft zu tun, sind die Frauen dort besser gestellt als in anderen muslimischen Gesellschaften, wo sie ja doch eine sehr streng vorgezeichnete Rolle haben?

JW: Ja, das denke ich schon. Also, natürlich, die Kurden sind natürlich nicht ‚die Kurden’, sondern es gibt ganz unterschiedliche Stämme, ethnische Unterscheidungen usw., aber im Wesentlichen, zum Beispiel in der Türkei, kann man schon, wenn man im Südosten unterwegs ist, sieht man zwei ganz unterschiedliche, nämlich Teile, die sehr streng religiös sind, und andere, die eher links, wenn man so will, stark vielleicht alt-sozialistisch denken und damit auch durchaus mit ein bisschen marxistischer Ideologie noch, also so was, was man bei uns eigentlich weniger mehr sieht, wo natürlich die Rolle der Frauen wesentlich größer ist als in der sunnitischen Mehrheitsgesellschaft. Ein Beispiel – wir waren in Kobane, das war Februar 2015, Kobane war damals schon befreit, und waren dann auf türkischer Seite in einem Flüchtlingslager und wir haben dort junge Frauen, 16, 17, 18 Jahre, getroffen, teilweise mit gutem Englisch, die gesagt haben, ihr großer Traum – und wahrscheinlich werden sie sich diesen Traum auch erfüllt haben – „Wir wollen kämpfen für die Kurden in Syrien“. Also das waren junge Frauen. Und ich hatte dann gefragt, eine, „Du kannst gut Englisch, wäre es nicht besser, nach Istanbul zu gehen und [zu] versuchen, auf der Universität einen Platz zu bekommen?“ Da sagt sie „Nein, ich will kämpfen für die kurdische Sache“. Also es gibt auch etwas – bei uns ein bisschen ‚unterberichtet’ – einen sehr starken kurdischen Nationalismus, der natürlich auch zur Durchsetzung dieses Nationalismus den Einsatz von Waffen mit einbezieht. Das ist einfach so.

HS: Wie schätzen Sie jetzt die weitere Entwicklung ein – ich meine, der Krieg ist zwar militärisch jetzt einmal – vorbei ist vielleicht zu viel gesagt, die Konflikte sind ja nach wie vor da, in Wirklichkeit, und vor allem, es wird ja der Krieg auch von außen immer wieder noch nach Syrien getragen, und Russland und die USA liefern sich ja dort auch irgendwie so eine Art Stellvertreterkrieg. Also die USA weiter im Osten, die Russen an der Mittelmeerküste und ein bisschen östlich davon –

JW: Ja. Also man hat jetzt das Gefühl, dass dieser Konflikt in Syrien eigentlich immer mehr zu einem ‚Frozen Conflict’ wird – das heißt, dass in letzter Zeit die Vertreibung des IS, bis auf ganz kleine Teile, aber eigentlich [ist] das Kalifat zerstört, war natürlich eine große Leistung und sozusagen ein Meilenstein, aber dieser Konflikt ist nicht beendet. Ich denke, es gibt drei Punkte, wo man jetzt hinschauen muss für die künftige Entwicklung. Das Erste ist die Provinz Idlib im Nordwesten Syriens an der türkischen Grenze – dort leben derzeit ungefähr drei Millionen Menschen, eineinhalb Millionen sind Binnenvertriebene, dort hat eine sehr streng islamistische Miliz mit Verbindungen zu Al-Nusra oder Al-Qaida sehr starken Einfluss, und dort will eigentlich das syrische Regime diese Rebellen vertreiben. Die Türkei versucht die ganze Zeit, dass dieser Konflikt dort nicht eskaliert, derzeit hört Russland noch zu, aber das ist sozusagen ein Hotspot, denn diese Menschen haben wirklich keine Möglichkeit, irgendwo anders hinzugehen, denn sonst müssten sie ja in die syrischen Regimegebiete zurück, [von] wo sie geflohen sind – die würden zur türkischen Grenze gehen, [das] sind ungefähr eineinhalb Millionen Leute, also da wird es wichtig sein, dass man das stabilisiert. Das Zweite ist in diesen weiten kurdischen Gebieten östlich des Euphrats, wo die Türkei den Status quo nicht akzeptiert, wo es jetzt eine Autonomie gibt, einigermaßen verwaltet, aber das könnte sich ändern. Und ich glaube ein sehr großes Thema ist weiter im Osten, an der iranisch-türkischen Grenze, das war auch ein Hotspot für Leute die aus Afghanistan – bis zum heutigen Tag passiert das, jeden Tag – in die Türkei gekommen sind, aber natürlich ist auch die politische Situation im Iran durch den Druck der USA in letzter Zeit auch instabiler geworden. Das sind, glaube ich, so die drei Punkte. Und natürlich leben in der Türkei 3,6 Millionen registrierte Syrer, denen man auch etwas bieten muss, und das wird für den türkischen Staat zunehmend schwierig.

HS: Glauben Sie, dass Europa da noch mehr tun müsste – ich meine, Europa hat sich ja durch diese Fluchtbewegung politisch stark verändert. Also, für mich wahrnehmbar erstens nach rechts, zweitens viel mehr Ausländerfeindlichkeit, um das Wort zu gebrauchen – aber trotzdem stellt sich für mich die Frage, ich meine, wir sind immer noch in einer relativ guten Situation, auch finanziell, auch wenn wir vielleicht mit einer Rezession demnächst zu kämpfen haben – gibt es irgendwelche vernünftigen Ansatzpunkte, weil alles das, was bis jetzt diskutiert wurde, Hilfe vor Ort, das scheint ja nicht zu funktionieren, oder nur schwer zu funktionieren.

JW: Ich würde jetzt wirklich nicht sagen, dass es nicht funktioniert. Also der Ansatz der Europäischen Union ist völlig richtig, da ist viel, viel passiert. Also Sie können zum Beispiel heute, Sie kommen in die Türkei, von diesen 3,6 Millionen Syrern haben ungefähr die Hälfte, also mindestens 1,8 Millionen eine, sozusagen Art Kreditkarte, finanziert von der Europäischen Union, ausgegeben vom Türkischen Halbmond, und auf diese Karte wird jedes Monat ein bestimmter Betrag – das ist nicht viel, aber es ist ein Betrag – pro Mitglied der Familie eingezahlt, und mit dieser Karte können sie einkaufen gehen. Das ist natürlich nur ganz wenig, aber es ist jetzt nicht so, es gibt Programme der Europäer, die Programme funktionieren auch, aber es braucht viel, viel mehr. Da gibt es natürlich auch Transparency-Probleme, wo die Türken sagen, das Geld muss viel, schneller fließen, die Europäische Union hat ja insgesamt sechs Milliarden Euro versprochen, das Geld muss viel schneller fließen, sagt die türkische Regierung – die Europäer sagen, jedes einzelne Projekt muss überprüft werden und deshalb dauert es zu lange, aber an sich ist es schon der richtige Einsatz. Also wir sollten natürlich verstehen, dass die Türkei wirklich auch langfristig für uns sicherheitsarchitektonisch einer der wichtigsten, oder der wichtigste Partner Richtung Osten eigentlich ist. Auch der Grenzschutz, der türkische, natürlich – es gibt ja unterschiedliche Maßnahmen, was tut man für die Menschen dort, und auch der Grenzschutz entlang der syrischen Grenze, [da] hat der türkische Staat eine, ich glaube mehr als 800 Kilometer lange, durchgehende Grenzmauer errichtet, es ist sehr schwierig jetzt – man sagt, es ist ein ‚Anti-Terror-Wall’, also man will verhindern, dass dort Terrorgruppen einsickern, aber natürlich geht es auch um das Management von flüchtenden Menschen. Das hat schon vor drei Jahren begonnen, also man hat die Tore nur dann aufgemacht, noch vorübergehend, wenn diese Menschen keine andere Möglichkeit mehr hatten, irgendwo sonst hinzugehen. Aber eigentlich ist die Grenze dicht.

HS: Aus Ihrer Sicht funktioniert diese Mauer?

JW: Es funktioniert – ja, es ist sozusagen, ich denke mir, wir haben ja auch gelernt, alle von uns haben viel nachgedacht, selbst Menschen, die damals in dieser wirklich, glaube ich, bis zum heutigen Tag sehr beeindruckenden Hilfsaktion 2015 in Österreich mitgemacht haben, haben natürlich auch umgedacht. Es sind unterschiedliche Maßnahmen notwendig, natürlich Integration der Leute vor Ort, Hilfe vor Ort, oft schwierig zu organisieren – aber eines ist natürlich ganz klar: In einem Akutfall ist eine physische Barriere einfach eine physische Barriere. Sie wird verhindern, dass Menschen in dieser großen Zahl flüchten – ob man das jetzt moralisch gut findet, oder nicht, ist eine völlig andere Frage. Aber solche Barrieren können auch funktionieren. Also es ist aus meiner Sicht nicht – und auch, was ich beobachtet habe – nicht richtig, dass so was gar nicht funktioniert, aber ob das eine Lenkungsmaßnahme ist, wie wir solche Fluchtbewegungen managen wollen, das ist eine politische Frage. Also das ist nicht unbedingt eine faktische, sondern eine politische Frage.

HS: Ok. Von mir aus sind wir durch, ist für Sie noch irgendetwas wichtig – wir haben Afrin und diese Sachen eigentlich besprochen, oder Sie haben es angesprochen …

JW: Eine Sache vielleicht noch zur letzten Frage: Also was ich auch kommen sehe, ist, der Druck aus der Türkei gegenüber Europa wird zunehmen wieder. Also es ist jetzt ein Punkt erreicht, wo die türkische Regierung durch diese sehr hohe Anzahl an Flüchtlingen, wo einfach immer mehr klar wird, dass die nicht mehr heimgehen werden, durchaus unter Druck kommt. Und wir sehen schon Anzeichen jetzt, also auch zum Beispiel bei uns gegenüber Journalisten, wir werden jetzt wieder mehr eingeladen zu Veranstaltungen wo uns Regierungsvertreter eben erklären, was die Türkei alles getan hat, wie viel das kostet und wie wenig die Europäische Union zahlt. Also das würde ich so dahingehend interpretieren, dass mehr Hilfe notwendig ist. Es wird jetzt der erste Push so sein, dass viele Syrer, die in den westtürkischen Städten sind, von Izmir, aber vor allem natürlich in Istanbul, das kann an registrierten und nicht registrierten bis zu einer Million sein, dass ein Teil von denen einmal in die Provinzen zurückgedrängt wird, das ist eigentlich fix, das ist politisch bereits angekündigt worden, und ich denke schon auch, dass diese Sicherheitszone – es wird ja auch offiziell gesagt, im Norden Syriens – als eine Möglichkeit der Türken gesehen wird, dort Stabilität zu schaffen, obwohl dort eigentlich durch die kurdische Autonomie relative Stabilität bereits ist, und dort auch Leute hinzupushen, wenn man so will, oder zu überreden – momentan heißt es, es wird niemand über die Grenze abgeschoben, weil das ja auch völkerrechtlich illegal wäre – aber das könnte so ein Zukunftsszenario sein. Aber eines ist klar, in den westtürkischen Städten sind die syrischen Flüchtlinge zu einem wirklichen Problem geworden, die Bevölkerung murrt immer mehr, es ist wirklich lautstark zu hören, und in Zeiten einer wirtschaftlichen Rezession – Stichwort Wirtschaftskrise in der Türkei – wird natürlich die Angst, sozusagen, der Kampf um Verteilung und die Angst, ich könnte meinen Job verlieren, weil ein Syrer diesen Job billiger macht, immer größer.

HS: Das ist nachvollziehbar.

JW: Nachvollziehbar, ja.

HS: Herr Winter, recht herzlichen Dank.

JW: Danke sehr.

 

Transkript erstellt von Katharina Steinhauser